Die Knusperhexe

warelius-und-die-knusperhexeDer Zauberer Warelius schnaubte. Er hatte einen langen Weg hinter sich. Über den Wolkenbrecher, den höchsten Berg der Himmelshöhen, hatte er wandern müssen, das Düstere Tal hatte er durchquert und mit der Wichtelfähre über den Weiten Fluss übergesetzt – und ihr könnt Euch denken, dass die Wichtelfähre für einen 758 jährigen Zauberer von großer Statur nicht unbedingt die bequemste Art der Fortbewegung ist. Endlich war er im Verwunschenen Wald angelangt und eigentlich wäre es nur noch ein Katzensprung bis zum Haus seiner guten alten Freundin gewesen, doch dann hatte er sich von einem Wolf, den er nach dem Weg fragte, vom direkten Weg abbringen lassen. Der Wolf gab ihm den Hinweis auf einen hübschen kleinen Pfad mit vielen Blumen am Wegesrand, von denen er doch seiner Freundin ein paar pflücken und mitbringen könne, was der Zauberer durchaus für eine gute Idee hielt. Allerdings entpuppte sich der Pfad als gehöriger Umweg. Doch endlich, endlich erreichte Warelius das Haus seiner guten alten Freundin, der Knusperhexe. Warelius wischte sich mit seinem bestickten Taschentuch den Schweiß von der Stirn und öffnete das kleine Törchen. Er schritt die drei Stufen aus Zuckerguss empor und klopfte an die Lebkuchentür. Die Knusperhexe war dafür bekannt, eine große Naschkatze zu sein und für Lebkuchen und Zuckerguss schwärmte sie so sehr, dass sie ihr ganzes Hexenhäuschen daraus gebaut oder besser gesagt gehext hatte. Schon kurz nach dem Klopfen des Zauberers wurde die Lebkuchentür einen Spalt breit geöffnet. Misstrauisch blinzelten Warelius zwei kurzsichtige Augen aus einem faltigen Gesicht heraus an. „Jaaa?“, fragte eine kratzige Stimme. „Ich bin es! Warelius!“ Die tausend grimmigen Falten im Türspalt verzogen sich zu einem breiten Lächeln und die Tür wurde nun ganz geöffnet. „Warelius, mein guter alter Freund! Wie lange ist es nun her?“ „176 Jahre, wenn mich nicht alles täuscht. Und ich muss sagen, du siehst aus, als wärst du in der ganzen Zeit um keinen einzigen Tag älter geworden!“ „Und du bist immer noch der alte Schmeichler! Aber komm doch rein, komm doch rein! Der Tisch ist gedeckt. Es gibt einen süßen Krötenkuchen und einen schönen heißen Tee aus Spinnenbeinen gebrüht.“ „Du verwöhnst mich!“, erwiderte der Zauberer und folgte der Hexe in die gute Stube. Beide setzten sich an den gedeckten Tisch, die Hexe murmelte einen Zauberspruch und schon erhob sich die Teekanne und schenkte dem Zauberer und ihr selbst von der dampfenden Flüssigkeit ein. Die Hexe murmelte einen weiteren Zauberspruch und schon setzte sich der Tortenheber in Bewegung und verteilte den Kuchen auf den Tellern. „Wie geht es dir, meine Liebe? Ich habe gehört es ist recht ruhig geworden im Verwunschenen Wald seitdem die Böse Fee hier nicht mehr ihr Unwesen treibt.“ „Ja, ja. Ja, ja. Das ist schon richtig, nach dieser Geschichte mit dem armen jungen Ding, das sie hundert Jahre hat schlafen lassen, hat sie sich glücklicherweise verzogen. Ich habe gehört, sie lebt jetzt irgendwo hinter den Sieben Bergen und hat sich zur Ruhe gesetzt. Wir werden ja alle nicht jünger. Ja, ja. Ja, ja. Wir werden alle nicht jünger. So war es tatsächlich recht ruhig hier in letzter Zeit. Doch vor kurzem hat sich eine für mich recht unerfreuliche Geschichte ereignet.“ „Erzähl, beste Freundin! Hat es etwas mit deinem Haus zu tun? Ich habe bemerkt, dass das Dach und die Fensterrahmen ein wenig – wie soll ich sagen – angeknabbert aussehen.“ „Ja, ja, genau. Stell dir vor und dabei hatte ich mein Häuschen erst vor Kurzem renoviert. Ich hatte mir besonders viel Mühe gegeben. Die Lebkuchen sind nicht einfach mit einem billigen Zauberspruch herbeigerufen, sondern tatsächlich selbst gebacken und dann erst zusammenhext! Und dann so ein Ärger! Jetzt kann ich mit der Renovierung von vorne beginnen! Ich sage dir, es gibt viele schlechte Menschen auf der Welt und die Jugend von heute… Ach! Was rede ich, du wirst kein Wort verstehen. Am besten fange ich von vorne an.“ „Ich bin ganz Ohr, meine Gute!“ „Ja, ja. Ja, ja, die Kinder. Stell dir vor, eines Abends sitze ich gemütlich vor meinem Kamin und schaue ein bisschen in meiner Kristallkugel, was es für Neuigkeiten im Verwunschenen Wald gibt, was hier und dort so los ist. Es war nicht viel zu sehen. Nur der Wolf, der ein paar Wanderer hereinlegte und auf einen Umweg zum Blumenpflücken schickte. Der Gute macht sich gerne einen kleinen Spaß mit Fremden, die nach dem Wege fragen und die meisten fallen auf ihn herein.“ Die Hexe kicherte und Warelius sah verlegen errötend zur Seite. „Ja, ja, ja, ja. Nun, ich wollte die Kugel gerade zur Seite legen, zumal es draußen schon arg dämmerte und ohnehin kaum noch etwas zu erkennen war, da erblickte ich plötzlich zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Beide waren völlig aufgelöst und weinten. Sie schienen nach dem richtigen Weg zu suchen. So schickte ich ihnen kurzerhand eines meiner Täubchen, damit dieses ihnen den Weg zu mir zeigte, bevor der Wolf sie noch entdeckte und noch tiefer in den Wald schickte. Ich dachte, die Kinder sollten sich hier ruhig ein wenig aufwärmen, eine kräftigende Kräutergrütze zu sich nehmen und am nächsten Morgen würde ich ihnen von meinem Täubchen den Weg nach Hause weisen lassen. Doch nun ja, nun ja, was soll ich sagen! Sie folgten tatsächlich meinem Täubchen, doch kaum waren sie durch das Gartentor getreten, da machten sie sich an meinen frisch gebackenen Lebkuchen zu schaffen! Wie die Heuschrecken fielen sie über mein Haus her und seitdem regnet es wieder durch das angeknabberte Dach!“ haensel-und-gretel

„Kinder!“, entsetzte sich auch der Zauberer Warelius. „Keinen Respekt vor anderer Leute Arbeit und Mühe!“ „Du sagst es! Und du kannst dir vorstellen, dass ich nicht sehr begeistert war. Nein, ich war gar nicht begeistert. Ja, ja, ja, ja. Doch ich dachte mir, es sind eben arme verängstigte Kinder. Sie werden sehr hungrig sein und ich beschloss zunächst, das Ganze mit Humor zu nehmen. So ließ ich meine Stimme besonders krächzend klingen und rief ‚Knusper, knusper, knäuschen, wer knuspert an meinem Häuschen?‘ Ich dachte, das würde die Gören ein wenig verschrecken und sie würden aufhören, mein Haus und Heim aufzufuttern. Aber nein, aber nein. Frech entgegneten sie ‚Der Wind, der Wind, das himmlische Kind!‘ Ha! Und dann knabberten sie mir einfach munter weiter das Dach über dem Kopf weg!“ „Unglaublich!“ Warelius schüttelte den Kopf. „Nun, so trat ich aus der Tür und sprach die beiden an. Ich fragte sie, ob sie nicht lieber ins Haus kommen wollten, um eine warme Grütze zu essen und sich ein wenig auszuruhen. Da entgegneten sie mir frech, sie würden keine Grütze mögen und würden lieber weiter Zuckerguss und Lebkuchen essen, aber ein warmes Plätzchen wäre jetzt schon gut. So kamen sie doch herein. Ich fragte sie, wie sie hier in den Wald geraten seien und es stellte sich heraus, dass sie nicht auf ihre lieben Eltern gehört hatten, die ihnen schon oft verboten hatten, sich beim Holzsuchen im Wald vom Weg zu entfernen. Stell dir vor, die einfältigen Gören hatten sich dem Wort der Eltern ganz bewusst widersetzt und dachten, wenn sie Brotkrumen hinter sich streuten, würden sie auf diese Weise den Weg zurück schon wieder finden. Doch als sie kehrt machen wollten, stellten sie fest, dass die Tiere die Krumen schon längst gegessen hatten und nun bekamen sie es mit der Angst zu tun. Ja, ja, ja, ja. Nachdem sie mir ihre Geschichte erzählt hatten, maulten sie wieder herum, dass sie noch immer Hunger hätten und außerdem schrecklich müde wären. Also setzte ich ihnen meine berühmte Kräutergrütze vor, doch die wollten sie nicht anrühren. Ob ich nicht auch Pfannkuchen hätte, fragten sie, als sie mit angewidertem Gesicht die Teller mit der Grütze von sich schoben. Und – ja, ja, ja, ja – vielleicht bin ich zu gutmütig, aber ich habe auch so selten Kinder zu Gast und sie taten mir schon leid, ich habe ihnen also noch Pfannkuchen gebacken und anschließend zwei gemütliche Schlafplätze vorbereitet. Die beiden fielen auch gleich nach dem Essen ins Bett. Ja, ja. Ja, ja, den Abwasch haben sie natürlich auch mir überlassen. Nun, ja, nun ja, nach getaner Arbeit begab ich mich schließlich auch schlafen. Doch die nächtliche Ruhe fand ein jähes Ende. Stell Dir vor: am nächsten Morgen wurde ich in aller Frühe durch ein herzzerreißendes Jaulen geweckt! Ich eilte in die gute Stube und sah, wie der Junge – Hänsel – versuchte, meinen lieben alten schwarzen Kater in eine Kiste zu stecken und sich über das verängstigte Tier auch noch halb tot lachte!“ „Unerhört!“, entsetzte sich Warelius. „Aber fahr nur fort meine Liebe!“ „Warelius, du kennst mich, ich bin nicht leicht zu erzürnen, aber wer einem Tier ein Leid zufügt, nun, ja, ja, ja, der zieht meinen Zorn auf sich. Ich war so wütend, dass ich kurzerhand einen Käfig um Hänsel hexte und rief, nun wisse er vielleicht, wie es sich anfühle eingesperrt zu werden!“ Warelius lachte. „Das wird ihm eine Lehre gewesen sein!“ „Nun ja, nun ja. Ich beruhigte mich schnell wieder und wollte den Jungen natürlich gleich wieder befreien, doch da fiel mir auf, dass ich ganz vergessen hatte, eine Tür in den Käfig zu hexen und dummerweise auch noch den Zauber zum Entfernen von Käfigen vergessen hatte!“ „Ach du grüne Neune! Wie hast du den Jungen denn wieder herausbekommen?“ „Zunächst einmal habe ich es auf die altmodische Art versucht: mit einer Säge, doch nun, ja, nun ja, was soll ich sagen, mein Zauberkäfig hielt allen irdischen Mitteln Stand. Außerdem war es nicht gerade hilfreich, dass das Mädchen – Gretel – nun die ganze Zeit aufgeregt um mich herum rannte. Irgendwann wurde es mir zu bunt und ich setzte sie zur Ablenkung vor meine Zauberkugel. Ich selbst durchforstete stundenlang meine alten Zauberbücher nach dem richtigen Gegenzauber und war nebenher noch damit beschäftigt, dem immer hungrigen Hänsel Essen durch die Gitterstäbe zu reichen. Ja, ja. Ja, ja. Nicht zu glauben, was der kleine Kerl alles verdrücken konnte und dann streckte er mir immer noch seinen kleinen Finger durch das Gitter und sagte ‚Sieh nur, wie abgemagert ich schon durch das Sitzen im Käfig bin!‘ Dabei musste er so lange nun auch wieder nicht dort ausharren. Denn glücklicherweise fand ich schließlich den Zauberspruch und konnte den Jungen befreien. Das freche Kerlchen meinte doch sofort, auf den Schreck bräuchte er erst einmal etwas zu essen! Also heizte ich wieder den alten Ofen ein, um ihm und seiner Schwester noch ein paar Pfannkuchen zu backen. Ein schlechtes Gewissen hatte ich ja schon, muss ich sagen. Kinder einsperren, das trägt ja nun auch nicht gerade zum guten Ruf einer Hexe bei! Aber nun ja, nun ja, das schlechte Gewissen ist inzwischen verschwunden, denn stell dir vor, als ich mich gerade vor der offenen Ofentür bückte um ins Feuer zu blasen und es ordentlich anzuheizen, kamen die frechen Kinder herbei gelaufen und gaben mir einen kräftigen Tritt in den Allerwertesten, so dass ich kopfüber in den offenen Ofen fiel!“„Du meine Güte! Du hast Dich hoffentlich nicht ernstlich verletzt!“, rief Warelius und verschluckte sich vor Schreck an seinem Spinnentee. „Nein, nein. Nein, nein“, antwortete die Knusperhexe. „Zum Glück fiel mir sogleich ein passender Zauberspruch ein und ich verwandelte mich rasch in Rauch und stieg aus dem Schornstein auf und verwandelte mich auf dem Dach wieder zurück. Nachdem ich vom Dach herunter geklettert war, ging ich zurück ins Haus, äußerst verärgert. Dort standen ein zerknirschter Hänsel und eine Gretel, der das schlechte Gewissen ins Gesicht geschrieben war. Sie murmelten ein verlegenes ‚Entschuldigung‘ und erklärten, dass sie mich gar nicht in den Ofen schubsen, sondern nur ein wenig in den Allerwertesten treten wollten, weil Hänsel so lange hatte in dem Käfig sitzen müssen. Aber sie würden es nie wieder tun und Katzen würden sie auch nie wieder einsperren. Ja, ja. Ja, ja. Ich weiß ja nicht, ob ihnen der Schreck vielleicht wirklich eine Lehre war, doch ich wollte nun nichts anderes mehr als meine Ruhe vor diesen Kindern. Sollten sich doch ihre Eltern wieder mit ihnen plagen. So steckte ich ihnen rasch noch ein paar Münzen und Steinchen aus meinem Schatz zu – unter der Bedingung, dass sie nie wieder hier auftauchen würden – gab ihnen mein weißes Täubchen zur Seite, das ihnen den Weg nach Hause weisen sollte und schickte sie fort. In meiner Kristallkugel beobachtete ich noch, wie sie mit der Schwanenfähre über den Fluss der Sagen übersetzten und schließlich aus dem Verwunschenen Wald verschwanden. Ja, ja. Ja, ja. Du kannst Dir vorstellen, dass ich danach erst einmal ein paar Tage Ruhe und Erholung brauchte!“ „Aber ja, meine Liebe, das kann ich wirklich gut verstehen. Diese Kinder! Was soll man dazu sagen! Aber die Zeiten ändern sich eben. Es ist nicht mehr wie früher, als wir noch Respekt vor den Alten und Erfahrenen hatte“, meinte Warelius tröstend. „Ja, ja. Ja, ja. Du hast recht. Ich erinnere mich noch gut, wie aufgelöst du warst, als du mit lauter falschen Zaubersprüchen das Haus deines Lehrmeisters, dem alten Hexenmeister, verwüstet und überschwemmt hast. Hä, hä, hä! Gezittert hast du vor seiner Rückkehr und mit deinen Versuchen, alles zu vertuschen den ganzen Schlamassel nur noch schlimmer gemacht! Hi, hi, hi.“ Auch der Zauberer musste bei dieser Erinnerung an seine Zeit als Zauberlehrling lachen. So saßen Warelius und seine liebe Freundin die Knusperhexe noch lange beisammen, tranken Tee aus Spinnenbeinen, tauschten Erinnerungen aus und lachten bis das ganze Knusperhäuschen ins Wanken geriet. Aber davon soll ein andermal mehr erzählt werden.

teetrinken

© Michaela Groß

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