Vor gut einem Jahr sind wir aus der trubeligen Großstadt Berlin in eine kleine Gemeinde in der Nähe von Regensburg gezogen. Und was soll ich sagen, der befürchtete Kulturschock blieb bis heute aus. Wir haben uns von Anfang an sehr wohl und willkommen gefühlt. Das liegt sicher vor allem an der Herzlichkeit der Menschen, die wir bisher kennenlernen durften, aber nicht zuletzt auch an der wunderschönen Natur, die uns hier umgibt. Bei jeder Gelegenheit zieht es uns nach draußen in die märchenhaften Wälder der Umgebung mit ihren plätschernden Bächlein, den Höhlen, knarzigen, alten Bäumen und dem Nebel. Der Nebel hier im Tal kann ganz schön deprimierend sein, hat man uns gesagt, nachdem wir hergezogen sind. Doch ich freue mich an jedem Herbstmorgen, wenn ich aus dem Fenster schaue und der Nebel wie ein Schleier über der Welt liegt – manchmal auch wie dicke Suppe aus der nur die Gipfel der umliegenden kleinen Berge herausschauen. Und überhaupt: der Herbst – er ist hier meine liebste Jahreszeit, denn er bringt für mich die schönste Stimmung in die Natur. So ist dies für mich auch die beste Zeit, um mit den nächsten Geschichten meine neue Heimat näher vorzustellen. In den kommenden Wochen gibt es auf dem Kindergeschichtenblog nacherzählte Märchen und Sagen aus Regensburg und dem bayerischen Wald zu lesen.
Den Anfang macht eine in der Gegend sehr bekannte Sage aus Regensburg um die Steinerne Brücke.
Der Bau der Steinernen Brücke von Regensburg begann im Jahr 1135. In nur elf Jahren wurde die raffinierte Konstruktion, dieses Bollwerk, das seit bald 900 Jahren noch jedem Hochwasser standgehalten hat, fertiggestellt. Da muss doch der Teufel seine Finger im Spiel gehabt haben…
Die Steinerne Brücke
In Regensburg lebten einst zwei Baumeister, die zu den größten ihrer Zunft gehörten. Doch niemand konnte sagen, wer der bessere von den beiden war, wer die raffinierteren Pläne, die gewagteren Konstruktionen erschaffen konnte. Das ärgerte die beiden Streithammel, die es liebten, sich zu messen und immer darum wetteiferten, wer denn nun der erste Baumeister in Regensburg sei. Doch wen sie auch fragten, niemand wollte dies entscheiden. „Wenn schon keiner sagen kann, wer von uns der bessere Baumeister ist, dann wollen wir doch einmal sehen, wer der schnellere von uns ist. Wenn deine Brücke passierbar ist, bevor in meinem Dom die erste Predigt gehalten wird, dann will ich gerne ein für alle Male einräumen, dass du der gewieftere Baumeister von uns beiden bist. Soll doch die Geschwindigkeit unserem Wettstreit ein Ende machen“, schlug der Dombaumeister vor. „Abgemacht!“, stimmte der Brückenbaumeister ein. Mit einem Handschlag besiegelten sie ihre Wette und machten sich ans Werk.
Den Brückenbaumeister hatte der Ehrgeiz gepackt. Seine Brücke würde die einzige Möglichkeit zwischen Ulm und Wien bieten, trockenen Fußes und ohne Boot, Kahn oder Floß über die Donau zu gelangen. Es sollte ein prächtiges Bauwerk werden. Denn nicht nur Händler und Krämerfrauen würden darüber gehen. Fürsten und andere hohe Herren würden über seine Brücke reiten, ganze Heere würden über sie marschieren. Nicht weniger als 16 massive Pfeiler sollten der Strömung des Flusses standhalten. Ein großes Vorhaben. Und die Stelle, an der derzeit noch eine alte Holzbrücke über den Fluss führte, war über 300 Meter breit. Ein Entwurf für die Brücke war schnell gefertigt und die Bauarbeiten begannen in einem trockenen Sommer, in dem der Fluss nicht allzu viel Wasser führte. Die Arbeiter errichteten ohne größere Schwierigkeiten Fangdämme, mit deren Hilfe im Trockenen an den Fundamenten der Brückenpfeiler gearbeitet werden konnte. Während der Dombaumeister, der alte Pfennigfuchser, noch mit den Steinmetzen im Streit um ihre Bezahlung lag, schritt der Bau der Brücke gut voran. Doch dann kam der erste Herbst. Und mit dem Herbst kam der Regen. Die Strömung der Donau wurde so reißend, dass an der Brücke nur selten gearbeitet werden konnte. Auf den verregneten Herbst folgte ein eisiger und langer Winter mit viel Schnee. Die Arbeiten mussten ganz aussetzen und als die Temperaturen im nächsten Frühjahr wieder in die Höhe kletterten, führte die Donau so viel Wasser, dass es noch eine ganze Weile brauchte, bis die Arbeiten an der Brücke wieder aufgenommen werden konnten.
Und auch weiterhin sollte dem Brückenbaumeister kein Glück mit dem Wetter beschieden sein, auf das er bei der Arbeit im Fluss so sehr angewiesen war. Denn auch der kommende Sommer war verregnet und auch der nächste und der auf diesen folgende.
Die Monate und Jahre gingen ins Land und während der Dom wuchs und mehr und mehr Gestalt annahm, war die Steinerne Brücke noch kaum zu erahnen. Die Fangdämme wurden ein ums andere Mal von der Strömung davon gerissen und die Arbeiten wurden immer wieder um den ein oder anderen Schritt zurückgeworfen. Zu allem Übel hatte der Dombaumeister begonnen, dem Brückenbaumeister die besten Arbeiter abzuwerben. „Bei mir werdet ihr wenigstens nur von oben nass, wenn es regnet! Auch müsst ihr nicht alle Nase lang mit der Arbeit aussetzen, weil der Fluss gerade wieder zu viel Wasser führt. Wie wollt ihr so eure Bälger durch den Winter bringen – ohne eine zuverlässige Bezahlung? Außerdem baut ihr bei mir an einem Haus des Herrn. Dies wird euch auch im nächsten Leben zu Gute kommen. Den Fluss mit Stein bezwingen zu wollen, das scheint mir eher ein Werk für den Teufel zu sein, ein eitles und hochmütiges Unterfangen. Kein Wunder, dass unsere liebe Donau sich dagegen wehrt“, so sprach der Dombaumeister zu den Brückenarbeitern und einer nach dem anderen lief zu ihm über. Bald waren dem Brückenbaumeister nur noch wenige Arbeiter geblieben. Und allmählich zweifelte er daran, die Brücke jemals fertigstellen zu können. Mit Wut und Neid blickte er jeden Tag auf den immer weiterwachsenden Dom. Und wo Neid und große Pläne zusammentreffen, da ist der Teufel, der windige Geselle, meist nicht weit. Und eines Abends, als der Brückenbaumeister nach einem verregneten und kalten Arbeitstag seine Füße am Kaminfeuer wärmte, da machte es plötzlich „puff“ und im offenen Kamin erschien eine Gestalt mit Ziegenfuß und spitzen Hörnern auf dem Kopf. Rot wie die um ihn züngelnden Flammen und den Geruch von Schwefel verbreitend stand der Leibhaftige vor dem Brückenbaumeister. Starr vor Schreck wagte dieser nicht, sich auch nur zu rühren. „Ich habe gehört, dich plagen Sorgen wegen dem Bau deiner steinernen Brücke“, hob der Teufel zu sprechen an. Der Baumeister fühlte sich außer Stande, zu antworten. „Ich beobachte den Dombaumeister und dich nun schon ein Weilchen. Und ich muss sagen, es tut mir im tiefsten Inneren leid, zu sehen, wie du dabei bist, deine Wette zu verlieren. Du bist ganz eindeutig der bessere Baumeister. Nur hast du dir auch die schwierigere Aufgabe zugemutet“, so schmeichelte der Leibhaftige dem Brückenbaumeister, der bei den freundlichen Worten des Teufels allmählich seine Angst ablegte. „Es ist eine ungerechte Wette, wenn du mich fragst. Einen Dom bauen – wie viele haben dies nicht schon zuvor zu Wege gebracht? Aber eine Brücke aus Stein über eine solch lange Strecke über einen wilden Fluss zu führen, das hat noch kaum jemand gewagt.“ „Ja, nicht wahr?“, stimmte der Brückenbaumeister dem Teufel zu. „Und dann schnappt mir der Dombaumeister, der alte Halunke, auch noch meine besten Arbeiter vor der Nase weg!“ Und ohne es zu merken, war der Brückenbaumeister mit seinen Worten dem Teufel schon halb auf den Leim gegangen. „Ja, ja“, pflichtete dieser dem Brückenbaumeister eilig bei. „Und dann unterstellt er dir auch noch, mit mir im Bunde zu sein! Dabei wissen wir beide doch genau, dass wir noch nie miteinander zu tun hatten. Allerdings… Wenn der Dombaumeister, der alte Halunke, dir schon derlei unterstellt, warum solltest du dann nicht tatsächlich von meinen Künsten profitieren? Zumal der Dombaumeister selbst mit falschen Karten spielt. Lass mich dir einen Vorschlag machen. Wenn du dich darauf einlässt, werden wir beide davon profitieren und wenn nicht, nun, dann hast du von mir nichts zu befürchten. Ich verschwinde, wie ich gekommen bin und du siehst mich nie wieder.“ „Ich bin ganz Ohr“, entgegnete der Brückenbaumeister. „Ich werde dir gerne helfen, die Brücke fertig zu stellen, bevor die erste Messe im Dom gehalten wird. Das einzige, was ich im Gegenzug dafür verlange, das sind die Seelen der ersten Drei, die deine fertige Brücke überqueren. Was sagst du dazu?“ Der Brückenbaumeister überlegte einen Moment. Dann spielte ein Lächeln um seine Lippen. „Die Seelen der ersten Drei, die meine fertig gestellte Brücke überqueren, sagst du? Ich sage abgemacht!“ Er reichte dem Leibhaftigen die Hand. Die Pranke des Teufels fühlte sich unerwartet kühl an. Kaum war die Abmachung per Handschlag besiegelt, machte es noch einmal „puff“ und der Teufel war samt seinem Schwefelgeruch verschwunden. Am folgenden Tag fragte sich der Brückenbaumeister, ob er nicht an der Wärme des Kamins einfach eingeschlafen war und die Abmachung mit dem Teufel nur geträumt hatte. Doch gingen von diesem Tag an die Arbeiten an der Brücke mit erstaunlicher Geschwindigkeit voran. Das Wetter spielte mit, es kamen Scharen von Arbeitern aus ferneren Städten herbei, die von dem wagemutigen Brückenbau gehört hatten und unbedingt daran beteiligt sein wollten. Dagegen stand der Bau des Doms fortan unter keinem guten Stern. Hier und da stellte sich heraus, dass die Statik falsch berechnet worden war und Teile des bereits errichteten Mauerwerks stürzten eines Nachts ein, andere mussten wieder abgetragen werden. So kam es, dass schließlich elf Jahre nach Beginn der Bauarbeiten eine prächtige Steinerne Brücke über die Donau führte, im Dom aber noch lange keine Messe würde gehalten werden. Zähneknirschend gestand der Dombaumeister dem Brückenbaumeister den Gewinn der Wette zu. „Du bist eindeutig der schnellere Baumeister“, sprach er und reichte dem Konkurrenten die Hand.
So rückte auch der Tag der ersten Brückenbegehung näher. Es sollte eine große Feierlichkeit sein. Und die drei höchsten Würdenträger höchstpersönlich wollten sich die Ehre geben, als erste über das meisterhafte Bollwerk zu schreiten. Als der Tag der Brückenbegehung gekommen war, waren die Straßen und Gassen der Stadt voller Musik und lärmender Menschen. Die Meisten hatten sich jedoch an der Brücke versammelt, denn kaum einer wollte den Augenblick verpassen, wenn die Brücke das erste Mal überschritten wurde.
Die drei höchsten Würdenträger hatten sich in ihre Festgewänder gehüllt und standen mit dem Brückenbaumeister am Brückenaufgang. „Ich denke, wir sollten die Begehung jetzt wagen!“, sagte der eine. Und wollte gerade seinen Fuß auf die Brücke setzen, als der Brückenbaumeister ihn zurückhielt. „Einen Augenblick bitte, Herr“, sprach der Brückenbaumeister. „Es gibt unter den Brückenbauern eine alte, fast vergessene Tradition zur ersten Brückenbegehung. Es wäre mir sehr wichtig, diese durchzuführen, bevor die ehrenwerten Herren mein Bauwerk betreten. Nennt mich einen Dummkopf, doch ich bin nicht frei von Aberglauben und davon überzeugt, es bringt uns allen großes Unglück, wenn wir dieses bestimmte Ritual nicht einhalten.“
Von unterhalb der Brücke war ein „Puff“ zu hören und ein Hauch von Schwefelgeruch breitete sich aus. Denn dort hockte nun der Teufel, rieb sich die Pranken und wartete auf die drei versprochenen Seelen.
„Nun denn, wenn es ihm so wichtig ist, soll er sein Brückenbauerritual durchführen – solange es nicht gotteslästerlich ist, können wir ihm dies als Anerkennung für seine großartige Arbeit wohl zugestehen“, sagte schließlich einer der etwas verdutzt wirkenden hohen Herren. „Oh, gotteslästerlich ist es nicht!“, erwiderte der Brückenbaumeister. „Man könnte sogar sagen, das Gegenteil ist der Fall.“ Der Brückenbaumeister pfiff einen Gehilfen herbei und dieser führte einen Esel, einen Hahn und einen Ochsen herbei, die er vor sich her über die Brücke trieb. Wer aufmerksam lauschte, hätte nun ein neuerliches „Puff“ hören können, denn in diesem Moment verschwand der Teufel in einer Wolke aus Ärger und Rauch und fluchte dem Brückenbaumeister, dem alten Halunken, der es geschafft hatte, dem Leibhaftigen ein Schnippchen zu schlagen. Denn Ochsen und Esel gab es in der Hölle ja wahrlich schon genug.
Übrigens, der Regensburger Dom entstand in seiner ersten Version in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts. Der Dom, wie wir ihn heute kennen, wurde ab 1275 erbaut. So konnten Dombaumeister und Brückenbaumeister in Wahrheit nie im Wettstreit aufeinandertreffen.