Die Hexe vom Rachelsee

Stille Wasser sind tief, sagt man. Und der Rachelsee ist das stillste Wasser im Bayerischen Wald. Doch in ihm verbirgt sich die gefürchtete Rachelhexe. Wie sie dort hineinkam und wie sie ein ums andere Mal auch wieder hinauskommt, das könnt Ihr hier lesen.

Auf Schloss Ramelsberg bei Schönberg im Bayerischen Wald führte einst die Gräfin Maria Maximiliana Genoveva von Drexel, auch die Wecklin genannt, ihr schreckliches Regiment. Sie war getrieben von Gier und Neid. Die Gräfin zeigte sich nicht nur ihren Feinden gegenüber unerbittlich. Dass ihre Schutzbefohlenen die hohen Steuern, die sie verlangte, kaum zahlen konnten und in immer tiefere Armut gerieten, bereitete ihr nicht gerade schlaflose Nächte. Auch ihre Dienerschaft hatte unter ihr zu leiden. Sie ließ sie schuften ohne ihnen einen Lohn zu zahlen und bestrafte sie schwer, wenn etwas nicht sofort nach ihrem Willen lief. Für das kleinste Missgeschick wurde man tagelang in einen Kerker gesperrt. Und kamen Bettler zum Schloss, hungrig und abgemagert, ließ die Gräfin das Essen lieber an die Schweine verfüttern anstatt den Ärmsten der Armen etwas zu geben.
So war es kaum verwunderlich, dass die Trauer um die Gräfin sich in Grenzen hielt, als sie in ihrem 60sten Lebensjahr an einer plötzlich auftretenden Krankheit verstarb. Doch der verwitwete Graf kümmerte sich darum, dass sie mit allen Ehren ihres Standes beigesetzt wurde.
Am Tage ihrer Beerdigung wurde der Sarg auf ein prächtiges Fuhrwerk geladen und vier edle Rappen wurden angespannt, um die Kutsche zum Friedhof zu ziehen. Vorneweg sollte der Geistliche laufen, hinter der Kutsche folgte der Adel. Doch als der Kutscher mit der Peitsche schnalzte und die Pferde sich in Bewegung setzten, kamen diese kein Stück vom Fleck – ganz so, als wäre ein Tonnengewicht auf dem Fuhrwerk geladen. Es war ein düsterer Tag, doch mit einem Male wurde der Himmel noch dunkler. Ein großer Schwarm Raben kam aus der Höhe herbei und stürzte sich kreischend auf den Sarg. Der Kutscher scheuchte die Vögel hinfort. Nun konnte sich plötzlich auch die Kutsche in Bewegung setzen und das mit einer solchen Leichtigkeit, als wäre der Sarg leer. Das kam den Leuten nicht ganz geheuer vor, doch kehrte nach der Beisetzung der Gräfin zunächst Ruhe ein in das Schloss.
Aber ein Jahr nach dem Tode der Gräfin machte eine Magd eine grausige Entdeckung. Als sie des Morgens in den Stall ging, sah sie dort zwischen den Schweinen ihre ehemalige Herrin, die Wecklin hocken. Der Wahnsinn blickte aus den Augen der toten Gräfin während sie sich die Reste vom Schweinefutter in den Mund stopfte. Die Magd ließ vor Schreck den Wassereimer fallen, den sie in Händen trug und eilte zu ihrem Dienstherren. Dieser ging nun selbst in den Stall und sah dort seine verstorbene Frau im Dreck hocken und gierig Kartoffelschalen aus dem Schlamm klauben. Der Graf war so verdutzt, dass er nichts besseres zu tun wusste, als seiner Gattin feine Speisen bringen zu lassen. Doch diese lehnte sie ab. Schließlich rief man nach dem Priester, der auch sogleich herbeikam. Mit Gottes Hilfe verbannte er die Gräfin in den Rachelsee, damit ihr Geist nicht mehr das Schloss heimsuchen konnte. Doch am nächsten Morgen hockte die Gräfin erneut im Stall. Wieder rief man den Priester herbei. Dieser verbannte die tote Gräfin erneut in den See, doch nicht ohne ihr zuvor Eisenschuhe anlegen zu lassen, damit sie endlich in den Tiefen des Wassers Ruhe fände.
Seither ist die Gräfin im See. Manchmal hört man sie aus der Tiefe murmeln. Und meist halten die eisernen Schuhe sie unten.
Doch an den zwölf Losnächten da ist es schon passiert, dass der ein oder andere Bauer in der Gegend um den See am Morgen die Abdrücke schwerer Eisenschuhe im Schlamm seines Schweinekobens fand. Die Rachelhex steigt in dieser besonderen Zeit des Jahres wohl doch noch manchmal aus dem Wasser…

Übrigens: Man kann die Wecklin auch bei den traditionellen Umzügen zur Lousnacht im entdecken. Hier zieht sie neben anderen Geistern durch Städte und Dörfer im Bayerischen Wald.