Die Raketensocken

Tante Cleo war Minas Lieblingstante. Und Professorin für Archäologie. Wenn Tante Cleo nicht gerade an der Universität den Studenten etwas beibrachte, reiste sie in der Weltgeschichte herum. Sie flog in mehr oder weniger ferne Länder, um dort mit einem winzigen Pinsel ganze Dörfer freizulegen, die im Laufe von Jahrhunderten unter vielen Erdschichten verschwunden waren. Manchmal grub sie auch nur ein paar winzige Tonscherben aus, die dann in einem Museum ausgestellt wurden. Ob Dorf oder winzige Tonscherbe, Tante Cleo erzählten die Dinge, die sie auf ihren Grabungen entdeckte, immer eine Geschichte. Und auch Tante Cleo selbst steckte voller Geschichten. Manche waren wahr, andere dachte sie sich aus. Fragte man Tante Cleo zum Beispiel, warum sie keine Kinder habe, dann sagte sie: „Minchen, du weißt doch, ich bin eine verwirrte Professorin. Gut möglich, dass ich ein Kind hatte und es irgendwo vergessen habe. Vielleicht lebt es jetzt in dieser Ruinenstadt, die wir kürzlich ausgegraben haben. Das könnte durchaus sein. Zum Glück bin ich nicht nur eine verwirrte Professorin, sondern auch sehr klug. Daher ist mein Kind sicher auch außergewöhnlich klug und findet sich gut zurecht. Wahrscheinlich hat es dem Geisterkönig, der in der Ruinenstadt lebt, schon längst den Thron abspenstig gemacht. Und nächste Woche klingelt es an meiner Tür und mein Kind steht davor. Über und über mit Gold behangen. Das Gold hat ihm der Geisterkönig gegeben, damit es aus seiner Stadt verschwindet. Von dem Gold kaufen wir uns dann ein Häuschen auf einer Südseeinsel. Du darfst uns natürlich jederzeit besuchen.“ Mama lachte, wenn Cleo solche Geschichten erzählte und sagte: „Mina, du weißt, dass das nicht wahr ist. Cleo erzählt nur wieder Geschichten.“ Natürlich weiß Mina das. Doch abends vor dem Einschlafen stellte sie sich vor, wie es wäre, Tante Cleo auf einer Südseeinsel zu besuchen.

Tante Cleo dachte sich nicht nur die besten Geschichten aus, sie machte auch großartige Geschenke. Immer brachte sie für Mina etwas Besonderes mit. Meistens waren es Dinge, die sie auf ihren Reisen kaufte.

Doch an diesem Ostersonntag war Mina enttäuscht von dem Geschenk ihrer Tante. In ihrem Osternest lag ein kleines Päckchen auf das Tante Cleo in ihrer krakeligen Handschrift „für mein Minchen“ geschrieben hatte. Mina befühlte das kleine Paket. Ein weiches Päckchen. Weiche Päckchen bedeuteten selten etwas Gutes. Weiche Päckchen bedeuteten meist Kleidungsstücke. Einen bunten Schal, einen dicken Wollpulli oder ein Flanellkleid. Und dieses Päckchen war nicht nur weich, sondern noch dazu so klein, dass dort nicht einmal ein Schal hineingepasst hätte. Mina zerriss das Papier und zum Vorschein kam – ein Paar Socken! Socken! Blaue Socken mit eingestickten kleinen grünen Raketen. Ja, sie waren weich und sicher sehr gemütlich, dennoch blieben es Socken. Als Mina nach der Eiersuche ihre Tante anrief, um sich zu bedanken, fiel es ihr schwer, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Und so ganz schien ihr dies auch nicht zu gelingen. Tante Cleo meinte am Ende des Telefonats: „Weißt du Minchen, manchmal stecken gerade die unscheinbaren Dinge voller Überraschungen.“ Was meinte Tante Cleo nur damit? War das eine ihrer Weisheiten, die sie immer einmal wieder völlig ohne Zusammenhang in Gespräche einstreute, oder bezog sie sich damit auf die Socken?

Als es Zeit zum Schlafengehen wurde, nahm Mina die Socken mit in ihr Zimmer und betrachtete sie eingehend. Sie drehte sie auf links, dann wieder auf rechts. Doch sie konnte nichts Überraschendes an den Socken entdecken. Schließlich zog sie die Socken an und legte sich auf ihr Bett. Im Liegen betrachtete sie ihre Füße. Ja, die Socken waren warm und weich. Sie würden zumindest dafür sorgen, dass Mina heute Nacht keine kalten Füße bekam, doch wirklich überraschend war das auch nicht. Mina beugte die Füße vor und zurück. Ein hübsches Blau hatten die Socken, ein tiefes Blau, fast schwarz, wie der Weltraum. Mina ließ die Füße von der einen zur anderen Seite kippen. Das Grün der kleinen Raketen hob sich grell gegen das dunkle Blau ab. Mina schlug die Hacken zusammen. Und wusch! Plötzlich drehte sich die Welt! Mina klammerte sich an ihrem Bettgestell fest, doch das half nichts. Sie wirbelte im Kreis, dass sie nicht mehr wusste wo vorne und hinten, geschweige denn oben und unten war. Ihr wurde flau im Magen und sie hatte das Gefühl, aus sich selbst herausgewirbelt zu werden. Und alles drehte sich immer noch schneller und schneller bis Mina nur noch Schwarz sah und kleine kurze Blitze vor den Augen. Und dann diese Kälte! Sie konnte nichts dagegen tun und dann – plötzlich – Stillstand. Mina landete auf etwas Hartem. Zunächst war sie sicher, sich auf dem Fußboden ihres Kinderzimmers wiederzufinden. Doch als sie sich umsah, waren da weder die vertrauten Wände, noch ihre Möbel oder ihre Spielsachen.

Mina lag im Freien. Über ihr der Sternenhimmel und drei Monde. Drei Monde? Mina musste wohl noch benommen sein von dem ganzen Gewirbel. Sie setzte sich auf und sah sich um. Und sie erblickte eine Landschaft, wie sie noch keine vergleichbare gesehen hatte. Die Erde, auf der sie saß, schimmerte rötlich. Zu ihrer Rechten türmte sich in der Ferne ein seltsames Gebirge auf. Die Berge, die sich dunkel am nachtblauen Horizont abzeichneten, sahen aus wie seltsam geformte Türme – manche schief, manche kurz und dick, andere dünn und lang wie riesige Stricknadeln. Zu ihrer Linken entdeckte Mina einen nicht minder seltsamen Wald. Der Wald bestand nicht aus Bäumen, sondern aus riesigen Blumen, deren Stengel so dick waren wie der Stamm einer alten Eiche. War Mina geschrumpft und deshalb kam ihr alles so anders vor? Aber nein, denn obwohl ihr nicht mehr schwindelig war, gab es da immer noch die drei Monde und die Blumen zu ihrer Linken waren nicht nur riesig, ihre geschlossenen Blüten leuchteten von innen heraus. Mina rappelte sich auf. Was war das? Ein Schatten! Sie war sich sicher, dass da gerade ein Schatten hinter einen Erdhügel gehuscht war. Mina erstarrte. „Krchx?“, klang es da plötzlich hinter dem Erdhügel hervor. Und noch einmal „Krchxxxx?“. Dann lugte ein Kopf um die Ecke. Ein pelziger Kopf mit riesigen dunklen Augen und spitzen Ohren. Das Wesen, das aussah wie eine Mischung aus einem Uhu und einem Teddybären, kam nun ganz aus seiner Deckung. „Krchx?“ „Tut mir leid. Ich verstehe dich nicht!“, sagte Mina. Das Wesen wiegte den Kopf. Es machte einen freundlichen Eindruck. Mina sah, dass es eine Art Tasche trug. Mit seinen Pfoten – oder waren es sehr pelzige, breite Hände mit kurzen Fingern? – wühlte es in dem Beutel. Schließlich holte es zwei kleine Gegenstände hervor, die aussahen, wie die runden, goldenen Ohrclips von Minas Mutter. Und tatsächlich steckte sich das Wesen den einen Clip an sein Ohr und bedeutete Mina, es ihm mit dem anderen gleich zu tun. Mina klemmte sich den goldenen Clip an ihr rechtes Ohr. Als das Wesen nun erneut den Mund öffnete, konnte Mina auf wundersame Weise verstehen, was es sagte. Anscheinend hieß „Krchx?“ nichts anderes als „Wer bist du?“. „Ich heiße Mina“, antwortete Mina. „Oh, willkommen auf unserem Planeten Quarxl. Ich habe gesehen, wie du gelandet bist. Du bist ja ziemlich rasant vom Himmel gefallen. Und deine Füße haben gequalmt. Von welchem Planeten kommst du?“, plapperte das Wesen los. Großartig, dachte Mina. Jetzt bin ich wohl dank Tante Cleos Raketensocken mitten in der Nacht auf einem fremden Planeten gelandet! Tausende und tausende Kilometer entfernt von meinem Bett. In meinem uralten Flanellschlafanzug mit den gelben Quietscheentchen darauf! Tante Cleo hätte mich ruhig vorwarnen können. Doch sie sagte nur: „Ich komme von der Erde.“ „Oh, da bist du aber weit gereist!“, meinte das Wesen. „Ich heiße übrigens Lirx. Ich würde dich ja gerne in meine Blume einladen und dir etwas zu Essen und zu Trinken anbieten. Doch leider haben wir derzeit einen Blörp. Du hast übrigens ein sehr schönes Fell!“ Obwohl sie dank der Ohrclips miteinander kommunizieren konnten, verstand Mina kein Wort. In meine Blume einladen? Ein Blörp? Fell? Mit dem Fell musste er wohl ihren Schlafanzug meinen. Was für ein Glück, dass man auf diesem Planeten die irdische Mode nicht kannte. „Dort hinten siehst du übrigens unsere Blumenstadt Xotl.“ Lirx zeigte in Richtung des Waldes mit den riesigen leuchtenden Blumen. „Xotl ist eine der schönsten Blumenstädte in dieser Gegend. Naja, bis vor kurzem war sie es jedenfalls. Nun haben wir einen Blörp und werden die Stadt wohl bald ihrem Schicksal überlassen müssen.“ „Ihr wohnt also in Blumen?“, fragte Mina. „Aber ja!“, antwortete Lirx als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt und auf seiner Welt war es das wohl auch. „Und was ist ein Blörp?“, wollte Mina wissen. „Oh, du weißt nicht, was ein Blörp ist? Dann seid ihr auf deinem Planeten wohl von diesen Wesen verschont. Ein Blörp kann ein wirkliches Ärgernis sein. Unserer nennt sich selbst ‚der fiese König‘. Er ist sehr groß und grün und wabbelig. Und er hat direkt neben der Blume meiner Freundin Hax Wurzeln geschlagen.“ „Du meinst, er geht nicht mehr weg?“ „Ich meine, der Blörp hat Wurzeln geschlagen. Sie reichen tief in die Erde und breiten sich immer weiter aus. Hat ein Blörp erst einmal in einer Stadt Wurzeln geschlagen, ist es nur eine Frage der Zeit bis die Blumen unbewohnbar werden. Der Blörp zwingt uns Tag und Nacht, ihn zu gießen. Er sagt, wenn wir ihn nicht ständig gießen, dann entzieht er unseren Blumen das Wasser. Ich weiß, früher oder später wird er es ohnehin tun. Blörps sind gierig. Eimer um Eimer Wasser schleppen wir für ihn herbei, doch irgendwann wird er mehr wollen. Normalerweise leben die wenigen Blörps, die es gibt, an Flüssen. Doch dieses Jahr war eine lange Trockenzeit, darum ist der Blörp in die Stadt gekommen. So etwas passiert sehr selten – vielleicht alle 20 Jahre einmal. Doch wenn es passiert, kann man sich von seinem zu Hause früher oder später verabschieden. Und dass, obwohl der Fluss inzwischen wieder genug Wasser führt!“ Lirx sah sehr traurig aus. „Aber könnt ihr dem Blörp denn nicht sagen, dass es wieder genug Wasser für ihn am Fluss gibt?“, wollte Mina wissen. „Ein Blörp bewegt sich nur, wenn er es für unabdingbar hält. Blörps sind nicht gerade bewegungsfreudig.“ „Unabdingbar… Hm, na dann muss man das Problem wohl an der Wurzel packen“, murmelte Mina und dachte an ihren Großvater, der ein passionierter Gärtner war. „Opa hat einen grünen Daumen“, sagte Papa immer. „Ich glaube, ich weiß, wie ich euch helfen kann!“, rief Mina plötzlich. „Oh, wirklich?“, fragte Lirx hoffnungsfroh. „Ja, aber du musst mich mitnehmen in deine Stadt“, sagte Mina, die zugegebenermaßen sehr neugierig war, wie die Blumenstadt aus der Nähe aussah. „Aber gerne!“, sagte Lirx. Er führte Mina hinter den Erdhügel, hinter dem sie ihn zuerst hervorspähen gesehen hatte. „Hiermit sind wir in kürzester Zeit in der Stadt“, meinte Lirx und wies auf ein metallenes Etwas, das aussah, wie eine große schwebende Frisbeescheibe. Lirx setzte sich auf die Scheibe und Mina tat es ihm gleich. Dann machte Lirx ein paar seltsame Geräusche und wusch! Los ging die Fahrt – oder besser gesagt, der Flug. Mina klammerte sich am Rand der Scheibe fest, als diese an Höhe und Geschwindigkeit aufnahm. So fühlt man sich wohl auf einem fliegenden Teppich, dachte Mina. Und tatsächlich schwebten sie so rasch auf die Stadt aus Riesenblumen zu, dass Mina sich innerhalb weniger Minuten zwischen Blütenstängeln dick wie Baumstämme wiederfand. Der Wald aus Riesenblumen war beeindruckend. Mina sah, dass die farbenfrohen, geschlossenen Riesenblüten nicht von selbst leuchteten. Sie waren wie überdimensionale Laternen von innen mit Lichtern erhellt. Mina sah nun auch, dass sich lange schmale Treppen an den Blumenstielen hochwanden. Und in jeder Blüte war am oberen Ende der Treppe eine Luke angebracht, durch die man in das Innere der Blüte klettern konnte. „Ihr wohnt in den Blüten!“, rief Mina fasziniert. „Aber ja, in was lebt ihr denn auf eurem Planeten?“ „Oh, naja, im Gegensatz zu eurer Stadt sind unsere Städte sehr langweilig. Sie bestehen aus gebauten Steinkästen.“ Mina genoss den Flug durch das Meer aus leuchtenden Riesenblüten. „Tagsüber, wenn die Blüten sich öffnen, dann können wir uns von Blüte zu Blüte unterhalten“, erzählte Lirx. „Oder man springt mal eben auf ein Tässchen Morgentau auf die Blüte des Nachbarn. Und – oh, wir sind gleich da. Die rote Blüte dort hinten bewohnt meine Freundin Hax und daneben…“ Jetzt sah Mina ihn. Den Blörp. Er war fast so groß wie die ihn umgebenden Blüten und sein schwabbeliger, dunkelgrüner Körper ergoss sich regelrecht zwischen den hohen Stängeln. Auf dem Kopf, der Mina entfernt an den einer riesigen Kröte erinnerte, trug der Blörp ein viel zu kleines Krönchen aus Gold. „Der fiese König“, flüsterte Mina beeindruckt. Das Ungetüm schien zu schlafen, denn sein massiger Leib hob und senkte sich in regelmäßigen Atemzügen. Die Augen waren geschlossen und seinem großen Mund, der eher einer Höhle glich, entwich immer wieder ein dröhnendes Geräusch, das wohl ein Schnarchen war.

„Ja, nun siehst du es selbst“, sagte Lirx. Er steuerte sein Fluggerät geschickt unter die Luke von Hax‘ Blüte und klopfte drei Mal dagegen. Doch niemand öffnete. Lirx klopfte lauter. Wenig später ging die Luke auf und ein freundliches, pelziges Gesicht spähte hervor. „Lirx! Und du hast jemanden mitgebracht.“ Die Luke wurde vollständig geöffnet und sie flogen ins Innere der Blüte. Der Anblick, der sich Mina bot, verschlug ihr die Sprache. Das Innere der Blüte bildete einen großen Raum. Auf dem Boden lagen Teppiche aus samtigen kleinen Blütenblättern, einige größerer Orchideenblüten wurden als Sessel genutzt und bildeten eine Sitzgruppe um einen Tisch, dessen Tischplatte das Blatt einer Wasserrose war. Weitere Möbel wie Schränke und Regale schienen aus einer Art Ranke natürlich im Inneren der Blüte gewachsen zu sein. Sie waren bestückt mit zarten Tässchen aus Blütenkelchen und Tellern aus dicken Blättern. Hax‘ Bett bestand aus weichem Moos. Darüber gespannt war ein aus feinsten Spinnweben gewebter Betthimmel. Überall im Raum verteilt waren kleine bunte Blüten, in denen Lichter brannten. Aber das Schönste waren die Schmetterlinge. Zumindest vermutete Mina, dass es sich um Schmetterlinge handelte. Zarte geflügelte Geschöpfe, flatterten überall in dem Blütenzimmer herum. Einige sahen aus wie die Schmetterlinge auf der Erde, doch andere wirkten eher wie kleine Feenwesen mit durchsichtigen Flügeln und kleinen pelzigen Gesichtern. Wieder andere hatten Ähnlichkeit mit Kolibris und waren mit leuchtenden bunten Federn versehen. „Möchtest du einen Schluck Morgentau?“ Hax hielt Mina einen Blütenkelchbecher unter die Nase. „Du hast übrigens ein sehr schönes Fell!“ Mina nahm den Becher dankend an und probierte einen Schluck von der klaren Flüssigkeit. Sie schmeckte frisch und leicht süßlich wie Nektar. „Mina sagt, sie habe eine Idee, wie sie uns mit dem Blörp helfen kann“, erklärte Lirx. „Oh, das wäre großartig! Lange halten wir es nicht mehr durch, ihn mit so viel Wasser zu gießen, wie er braucht. Er beginnt schon, den Blumen das Wasser wegzutrinken“, Hax wies auf eine Stelle ganz oben an einem der riesigen Blütenblätter ihres Blumenhauses. Und tatsächlich, die Blüte begann schon, sich bräunlich zu verfärben. „Die ersten Blütenstadtbewohner packen bereits ihre Sachen und machen sich für eine Umsiedelung bereit. Sie sind davon überzeugt, dass wir die Stadt nicht mehr lange werden halten können.“ „Dann sollten wir keine Zeit verlieren“, meinte Mina. „Hat der fiese König einen festen Schlaf?“ „Oh ja, allerdings! Er schläft lang und fest und wacht mit einem Riesendurst wieder auf!“, antwortete Lirx. „Dann lasst uns gleich diese Nacht nutzen! Ich wäre ja auch gerne morgen früh wieder zu Hause. Ich weiß nämlich nicht, wie ich meinen Eltern erklären soll, dass ich – naja, ein Problem nach dem anderen. Trommelt so viele Stadtbewohner zusammen wie möglich! Und sie sollen Schaufeln mitbringen!“ Hax drehte an dem goldenen Clip, den auch sie sich ans Ohr gesteckt hatte. „Auf diese Weise können wir uns Botschaften über größere Entfernungen übermitteln“, erklärte Lirx. „Wo treffen wir uns?“, fragte Hax. „Unten beim Blörp“, erwiderte Mina. Hax drehte noch ein paar Mal den goldenen Clip hin und her. Dann öffnete sie die Luke in ihrer Blüte und Mina, Hax und Lirx stiegen die lange Wendeltreppe hinab. Unten angekommen, warteten sie beim friedlich schnarchenden und im Traum vor sich hin murmelnden Blörp. Es dauerte nicht lange, da kamen die ersten anderen Blütenbewohner. Alle begrüßten Mina freundlich und so als sei es nichts Ungewöhnliches, dass ein Wesen von einem anderen Planeten bei ihnen auftauchte und sich anschickte, ihnen einen zugegebenermaßen eher unausgereiften Plan zur Rettung ihrer Stadt zu unterbreiten. Als alle Blütenstadtbewohner versammelt waren, die Hax in diesen späten Abendstunden hatte erreichen können, ergriff Mina das Wort. „Ich weiß noch nicht, ob es wirklich funktioniert. Es wird viel Arbeit und wir müssen uns beeilen, damit wir fertig werden, bevor der Blörp aufwacht“, begann Mina ihre Erklärung. Als sie ihren Plan erläutert hatte, guckten einige Stadtbewohner mehr als skeptisch. Einen meinte Mina murmeln zu hören „Naja, ob das was wird… Aber immerhin hat sie ein schönes Fell.“ Doch die meisten waren recht begeistert von ihrer Idee und alle machten sich sofort ans Graben.

Die Sonne ließ den Horizont bereits in einem rötlichen Licht erstrahlen und die Blüten der Blumenhäuser begannen bereits, sich zu öffnen, als Mina und die Blütenstadtbewohner mit ihrer Arbeit und damit dem ersten Teil des Plans fertig waren. Der Blörp schnarchte noch immer vor sich hin. Und das, obwohl Mina und die Bewohner der Blütenstadt vorsichtig all seine Wurzeln freigelegt hatten. Mina wischte sich den Schweiß von der Stirne. Ihr Quietscheentchenschlafanzug war über und über mit Erde verschmiert. „Also gut. Ihr wisst, was ihr zu tun habt“, sagte Mina. Die Blütenstadtbewohner stellten sich an den Wurzelspitzen auf. Mina hob die Hand und rief: „Eins, zwei, drei… Kitzeln!“ Und die Dorfbewohner kitzelten den fiesen König an den Spitzen seiner Wurzeln. Zuerst zuckte der Blörp nur ein wenig mit dem Mund und den Wurzeln. Doch dann öffnete er langsam das linke Auge. Sein massiger grüner Körper geriet in Bewegung. Der riesige Bauch bebte. Schließlich öffnete der Blörp den Mund und – lachte! Er lachte laut und dröhnend. Er lachte das lauteste Lachen, das Mina je gehört hatte. Und dann versuchte er etwas zu sagen. „Auf… Auf… ho, ho, ho, hooo, Auf.. ho, hö, hören, aufhören! Ho, ho, ho, ho, hooo!“ „Wir hören auf, sobald du dich auf die Wurzeln machst und zum Fluss verschwindest. Lass dich dort nieder. Da hast du genug Wasser und schikanierst die Blütenstadtbewohner nicht mehr!“, rief Mina dem Blörp zu. „Früher oder später musst du diesen Platz ohnehin aufgeben. Spätestens wenn du dafür gesorgt hast, dass all unsere Blumen vertrocknet sind!“, ergänzte Hax. „Aufhören! Ho, ho, ho!“ Dem Blörp rannen dicke Lachtränen über das Gesicht. „Erst, wenn du versprichst, zu verschwinden!“, rief Lirx. „Ho, ho, ho, höhö, ich verspreche ich ver… hoho, verspreche es!“, brachte der Blörp unter Lachen hervor. Da ließen die Blütenstadtbewohner von ihm ab. Der Blörp wischte sich mit seinen kurzen Ärmchen die Lachtränen von der Wange. Dann richtete er seine viel zu kleine Krone, blickte sich unter den Blütenstadtbewohnern um, die ihn erwartungsvoll ansahen und setzte seine Wurzeln in Bewegung. Mina atmete erleichtert auf. Doch dann hielt der Blörp inne und tat etwas vollkommen Unerwartetes. „Danke“, sagte er. „Danke fürs Gießen“. Mit diesen Worten setzte er seinen massigen Leib in Bewegung Richtung Fluss. Die Blütenstadtbewohner starrten dem fiesen König mit offenem Mund hinterher. „Moooment!“, rief Mina dem Blörp zu. „Du weißt schon, dass du beinahe die Stadt dieser netten, dieser, dieser netten Wie-auch-immer-sie-heißen zerstört hättest?“ „Ja, eben, sie sind alle so nett. Es war schön, von ihnen gegossen zu werden und ihren Unterhaltungen zu lauschen. Es war schön, die Kinder spielen zu sehen. Am Fluss ist es so öde. Dort kommt so selten jemand vorbei“, erwiderte der Blörp. Mina bekam so eine Ahnung, dass der fiese König gar nicht so fies war. Sondern einfach manchmal einsam. Und auch die Blütenstadtbewohner schienen dies zu ahnen. „Aber warum hast du uns bedroht. Wenn du einfach Gesellschaft wolltest, hättest du doch etwas sagen können“, meinte Lirx. „Hm, ich weiß nicht, es ist ja schon auch schön, alle ein bisschen nach meiner Pfeife tanzen zu lassen.“ Der Fiese König lächelte verschlagen und machte sich weiter auf den Weg zum Fluss. Mina und die Blütenstadtbewohner blickten ihm lange nach. „Also, ich werde ihn trotzdem ab und an mal gießen gehen. Auch wenn er jetzt am Fluss Wurzeln schlägt“. beschloss Lirx und Hax fand dies eine gute Idee. Nach und nach zogen sich alle Blütenstadtbewohner in ihre Blumen zurück. Sie hatten eine lange und anstrengende Nacht hinter sich. Schließlich standen nur noch Mina, Lirx und Hax auf dem Platz mit der vom Graben aufgewühlten Erde. „Ich muss wieder nach Hause“, sagte Mina. „Oh ja, du solltest dir dringend dein hübsches Fell waschen!“, sagte Hax verständnisvoll. „Vielleicht sehen wir uns ja einmal wieder.“ „Man sieht sich immer zweimal im Leben, sagt man bei uns auf der Erde.“ Mina gab Lirx den goldenen Ohrclip zurück.

Beim Graben hatte Mina Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wie sie wohl wieder nach Hause kommen würde. Sie hatte beschlossen, dass die Raketensocken wohl auf das reagiert hatten, was sie als Letztes getan hatte: die Hacken zusammenschlagen. Also sprang Mina kurzerhand in die Luft und schlug dabei die Hacken zusammen.

Und wusch! Wieder begann die Welt, sich in rasender Geschwindigkeit zu drehen. Sterne rauschten als kurze Lichtblitze an Mina vorbei und plötzlich, mit einem Plumps lag sie wieder in ihrem Bett. Die Sonne schien bereits durch die Gardinen, doch der Rest der Familie schien noch zu schlafen. Mina war noch ein wenig benommen und für einen Moment nicht sicher, ob nicht alles doch nur ein Traum gewesen war. Doch dann sah sie an sich herunter. Der Quietscheentchenschlafanzug war dreckverschmiert. Mina würde sich dafür noch eine Erklärung ausdenken müssen. Aber fürs Erste ließ sie sich selig in ihre Kissen zurückfallen. Tante Cleos Geschenke waren eben doch die besten!

© Michaela Groß 2019