Kopfball

Das Haus war alt. Es war aus großen, grauen Steinen gemauert. Es hatte eine schwere Holztür, ein Türmchen auf der Ostseite, zwei Stockwerke, ein Dachgeschoss und – einen Keller. Klara hasste den Keller.

Der Keller war zu düster. Der Steinboden war rau und kalt. Die einzelnen Räume hatten Holztüren, die mit Riegeln verschlossen wurden. So erinnerten sie eher an die Zellen eines Kerkers und nicht an Vorratsräume. Die lange, schmale Stiege, die in den Keller hinab führte, knarzte bei jedem Schritt. Klara ging niemals freiwillig in den Keller. Doch wenn sich der Gang nach unten nicht vermeiden ließ, hatte sie stets das Gefühl, irgendjemanden oder irgendetwas in seiner dunklen Ruhe zu stören.

Klara wohnte noch nicht lange in dem alten Haus. Bis vor ein paar Wochen hatte sie in der Stadt gelebt. Doch dann waren ihre Eltern auf die Idee gekommen, dass das Landleben mit all der Natur, den Tieren und der Ruhe sicher besser für Klara wäre. Sie hatten nicht lange suchen müssen. Ihre Eltern hatten sich sehr schnell in das große, leerstehende Steinhaus mit dem verwilderten Garten verliebt. Klara mochte ihr neues Zimmer, aber sie vermisste ihre Freunde, die Spielplätze, all den Lärm und das Leben in der Stadt. Sie vermisste sogar ihre alte Schule und die Lehrer. Die Natur, die Tiere und die Ruhe waren ihr egal. Und ihre Eltern, die ach so verliebt waren in das schöne neue Haus, seine alten Holzböden und den verwilderten Garten und das ganze Landleben und die frische Luft, sie vermissten die Stadt wohl auch mehr, als sie zugeben wollten. Bereits nach ein paar Wochen des friedlichen Landlebens fuhren sie Abends immer häufiger mit dem Auto in die Stadt, um ins Kino oder ins Theater zu gehen, Freunde zu treffen oder schicke Restaurants zu besuchen. Klara fand das ungerecht und konnte kaum erwarten, alt genug zu werden, um selbst mit dem Auto in die Stadt zu fahren.

Und weil sie alles so ungerecht und langweilig fand, beschloss sie, dass sie zumindest das Recht hatte, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Das bedeutete, dass sie an jedem Abend, an dem ihre Eltern ausgingen, wieder aus dem Bett kroch und sich ins Wohnzimmer schlich, sobald sie hörte, wie das Auto aus der Einfahrt verschwunden war. Dann stellte sie den Fernseher an, machte es sich auf dem Sofa gemütlich und sah sich all die Sendungen im Abendprogramm an, die ihre Eltern ihr nie zu sehen erlaubt hätten. Am liebsten mochte Klara Krimis mit aufregenden Verfolgungsjagden und gruselige Filme. Und Klara wusste, die Eltern dehnten ihre abendlichen Ausflüge gerne aus und kamen selten vor Mitternacht wieder nach Hause.

An einem dieser Abende war Klara gerade ein wenig vor dem Fernseher eingedöst, als sie plötzlich aufschreckte. Ein Rumpeln und Poltern hatte sie geweckt. Zuerst dachte Klara, die Laute kämen aus dem Fernseher, doch der Krimi, den sie gesehen hatte, war vorbei und es lief eine Dokumentation über die Tierwelt Kanadas. Dort polterte und rumpelte nichts. Nur ein Bär schnaufte durch Gebüsch. Auch im Haus war nun nichts mehr zu hören. „Ich habe wohl geträumt“, dachte Klara. Sie streckte sich wieder auf dem Sofa aus, doch da! Da war es wieder. Ein Rumpeln und Poltern. Klara schaltete den Fernseher aus und horchte. Sie hielt den Atem an. Die Geräusche kamen aus dem Keller. Stocksteif und hellwach saß Klara jetzt auf dem Sofa. Was konnte das sein? Plötzlich war es wieder ruhig. Klara atmete tief ein. Da ging es schon wieder los, es polterte und kollerte. Das Geräusch kam eindeutig von unten. „Die Waschmaschine!“, dachte Klara. Sicher hatten Mama oder Papa noch eine Ladung Wäsche angemacht und irgendetwas war noch in einer Hosentasche und machte nun so einen Krach. So war es schon einmal gewesen, als sie vergessen hatte, ein paar Steine aus ihrer Jeanstasche zu nehmen, bevor sie diese in den Wäschekorb geworfen hatte. Aber war das Geräusch damals auch SO laut gewesen? Klara stand vom Sofa auf. Sie musste es genau wissen. Sie würde hinunter in die Waschküche gehen und nachsehen, was los war. Bei dem Gedanken an den düsteren Keller schauderte es sie. Vor der Kellertür blieb sie zunächst stehen und lauschte erneut. Das Poltern hatte wieder aufgehört. Doch dann war es plötzlich wieder da. Es kam eindeutig von unten. Klara zögerte, doch dann öffnete sie leise quietschende Kellertür. Sie tastete nach dem Lichtschalter. Es war noch einer dieser ganz alten Schalter, die man drehen muss. Flackernd ging das schummrige Licht an und Klara ging die Treppe hinab. Das Knarzen der Stufen erschien ihr unerträglich laut. Erst als sie unten angelangt war, bemerkte sie die Stille. Das Poltern hatte wieder aufgehört. Seltsam. Klara fror. Sie ging auf leisen Sohlen in die Waschküche und fragte sich, warum sie so vorsichtig schlich, wo doch niemand außer ihr hier war. In der Waschküche war alles ruhig. Keine Waschmaschine im Schleudergang. Der Wäschekorb quoll über vor Schmutzwäsche, doch Waschmaschine und Trockner waren leer. Und die Stille, die nun in dem alten Haus herrschte, in dem sonst immer einmal irgendein alter Balken knackte, kam Klara beinahe unwirklich vor. Als würde das Haus mit ihr zusammen den Atem anhalten und lauschen. Das Licht flackerte. Klara überkam Panik und sie rannte los. Die schmale Treppe hinauf. Die Tür zum Keller knallte sie hinter sich zu. Sie rannte weiter nach oben in ihr Zimmer. Dort schnappte sie sich ihren MP-3-Player steckte sich die Kopfhörer in die Ohren, drückte auf Play und drehte ihr Lieblingslied auf. Sie verkroch sich unter der Bettdecke und fühlte, wie sich ihr Herzschlag langsam wieder beruhigte. Nach einer Weile schwitzte sie in der stickigen Luft unter der Decke, doch sie wagte nicht, sich zu bewegen.

Irgendwann musste Klara eingeschlafen sein. Als sie wieder unter der Decke hervorkroch, war es bereits hell. Klara stand auf und sah aus dem Fenster. Das Auto ihrer Eltern stand wieder in der Einfahrt. Klara dachte an die letzte Nacht. Nun, im hellen Tageslicht, war sie gar nicht mehr sicher, ob sie nicht alles nur geträumt hatte. Dennoch erzählte sie am Frühstückstisch ihren Eltern von den seltsamen Geräuschen. „Entweder ein Waschbär hat es sich in unserem Keller gemütlich gemacht oder du hast heimlich zu viele Gruselfilme geguckt“, meinte ihr Vater. Danach schwieg Klara verlegen. Ihre Eltern wussten doch immer mehr, als sie ihnen zutraute. Es war Samstag und der Tag verging mit den üblichen Erledigungen und einem langen und langweiligen Spaziergang durch die Felder. Am Abend waren ihre Eltern bei Freunden in der Stadt eingeladen. Klara würde wieder allein zu Hause sein. Ganz wohl war ihr nicht bei dem Gedanken. „Müsst ihr wirklich schon wieder weg?“, fragte Klara. „Nur noch heute Abend und noch einmal übermorgen, dann liegt erst einmal wieder eine ganze Weile nichts an“, antwortete die Mutter unbekümmert. Es war bereits dunkel, als das Auto mit den Eltern aus der Einfahrt fuhr. Der Kies knirschte unter den Reifen. Klara sah ihren Eltern von ihrem Zimmerfenster aus nach, bis die Rücklichter um die Ecke gebogen waren. Dann ging sie nach unten, füllte sich Popcorn in eine Schüssel und setzte sich vor den Fernseher. Doch heute war ihr nicht nach einem gruseligen Film zumute. Lieber wollte sie etwas Lustiges sehen. Erstens machte es nur halb so viel Spaß, verbotene Filme zu gucken, wenn man wusste, dass man längst durchschaut worden war und zweitens gingen Klara die unheimlichen Geräusche aus dem Keller nicht aus dem Kopf. Ein Waschbär, ja, das würde es sein. Trotz dieses beruhigenden Gedankens ertappte Klara sich immer wieder dabei, nicht der Handlung des Films zu folgen, sondern zu lauschen, ob nicht erneut ein Rumpeln aus dem Keller zu hören war. Doch nichts – kein Laut. Langsam entspannte Klara sich. Sie knabberte ihr Popcorn und bekam wieder etwas von ihrem Film mit. Schließlich kuschelte sie sich in eine Decke und legte sich gemütlich aufs Sofa. Doch dann hörte sie es. Diesmal war es kein Rumpeln und Poltern, nein, diesmal knarzte eine Tür, direkt hinter ihr. Mit einem Schlag saß Klara wieder kerzengerade auf dem Sofa. „Mama, Papa?“, rief sie ins Dunkel. Doch niemand antwortete. Klara wagte kaum, sich umzudrehen. Dennoch wendete sie ihren Blick der Tür in ihrem Rücken zu. Die Tür stand offen. Dabei konnte Klara schwören, dass sie sie geschlossen hatte. Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Sie war nun hellwach und starrte durch die geöffnete Tür in den düsteren Flur. Und plötzlich fühlte sie etwas. Kälte. Ein eisiger Hauch in ihrem Nacken. Etwas strich um ihren Hals, etwas, das sie nicht sehen, nur ganz dicht fühlen konnte. „Wo ist er, wo ist er?“ Klara war sich nicht sicher, ob die Stimme in ihrem Kopf war oder ob da tatsächlich etwas zu ihr sprach, ihr ins Ohr raunte. „Wo ist er? Wo ist er?“ Klara konnte sich nicht rühren. „Mein Kopf? Mein Kopf?“ Die Kälte kroch von Klaras Nacken in ihr Gesicht. Und dann, ganz langsam, wurde etwas sichtbar. Ein kalter Nebel breitete sich vor Klara aus. Und langsam, ganz langsam bildete der Nebel eine Gestalt aus. Ein zerfetztes Gewand umspielte einen dürren Körper. Aus dem Gewand sahen unten ein Paar Füße hervor oder besser – ein Paar Fußknochen – und dürre Skeletthände streckten sich nach Klara aus. Dabei raunte unablässig eine Stimme „Wo ist er? Wo ist er? Mein Kopf? Mein Kopf?“ Die Gestalt waberte vor Klara hin und her und das Raunen ergab plötzlich Sinn. Denn das, was der Gestalt fehlte, war ihr Kopf. „Hast du ihn gesehen?“, raunte es. Die dürren Fingerknochen tasteten nach Klara und – griffen durch sie hindurch. Sie fühlte die Kälte, doch merkte auch, dass die Finger sie nicht greifen konnten. Dies ließ sie ein wenig an Mut zurückgewinnen. „Ich habe deinen Kopf nicht! Ich habe ihn auch nicht gesehen.“ „Verflixt! Aber ich kann es mir schon denken, ich hatte gleich so eine Ahnung! Die verfluchten Zwillinge! Diese Ausgeburten der Hölle!“ Die Erscheinung raunte nun nicht mehr gespenstisch, sondern sprach laut und wütend. „Diese kleinen Teufel! Immer wieder spüren sie meinen Schlafplatz auf, egal, in welchem Winkel ich mich verkrieche. Was musste ich nicht schon alles von ihnen ertragen. Nur, weil ich manchmal ein wenig länger als bis zur Geisterstunde schlafe. Einmal haben sie meinen Schädel mit einem Blumenmuster bemalt. Niemand hat mich mehr ernst genommen und außerdem konnte ich mich dank der Farbe nicht mehr vernünftig unsichtbar machen. Und überall wo ich ging und stand und auftauchte hieß es nur ‚Oh, wie hübsch!‘ Oh wie hübsch, oh wie hübsch. Welches Gespenst will schon so etwas hören, wenn es herumspukt? Aber diese Teufelei setzt dem Ganzen die Krone auf! Die Halunken haben meinen Kopf gestohlen! Der sitzt seit 30 Jahren schon etwas locker. Und diese Dämonen der Unterwelt machen sich einen Spaß daraus!“ „Wer sind denn diese Zwillinge?“, fragte Klara, die ihre Angst beinahe vergessen hatte. Dieser Geist wirkte eigentlich recht menschlich. „Wer sie sind? Das kann ich dir genau sagen. Die waren schon zu Lebzeiten von der übelsten Sorte. Alle hatten unter ihren bösartigen Streichen zu leiden. Ob Mensch oder Tier, vor nichts und niemandem machten sie Halt. Es sind die Söhne des Baron Friedjulf von Kast, der es versäumt hat, seinen Knaben einmal ordentlich den adeligen Allerwertesten zu versohlen. Nur Unsinn hatten sie im Kopf! Doch dann kam der schwarze Tag für die Familie von Kast, als diese beiden Erben des Herrn Friedjulf nicht mehr zurückkehrten. Sie hatten einen uralten Geheimgang entdeckt, doch dieser schloss sich hinter ihnen und den Ausgang konnten sie nicht rechtzeitig finden. Verschmachtet sind sie, in ihrem eigenen Zuhause. Zur Strafe für ihre bösen Taten im Leben kehrten sie als Geister zurück aus ihrem Verlies. Das ist nun bald 200 Jahre her. Und noch immer haben sie nichts als Unsinn im Kopf! Nichts haben sie gelernt. Nichts!“ Klara legte den Kopf schief. „Wenn die Zwillinge aufgrund ihrer Bösartigkeit zu Gespenstern wurden, warum sind denn Sie ein Geist?“, fragte sie. „Du bist wohl ein neugieriges Fräulein, was? Nun, naja, ich bin sozusagen ein Ururgroßonkel der Zwillinge. Ich lebte etwa 100 Jahre vor ihnen in diesem verfluchten Gemäuer. Mein Bruder hatte mich bei sich aufgenommen, nachdem ich mein Vermögen – sagen wir einmal – verloren habe. Durch unglückliche Umstände. Es kann sein, dass ich damals meinem Bruder ein paar Silberlöffel geklaut habe.“ „Wegen ein paar geklauter Silberlöffel wurden sie zum Gespenst?“ „Nun, naja, es kann sein, dass ich auch noch ein recht wertvolles Collier meiner Schwägerin eingesteckt habe. Irgendwie ist die Halskette wohl bei einem Pfandleiher gelandet und ein wenig Geld in meiner Tasche. Und das Geld habe ich dann wohl auch wieder verloren. Beim Kartenspiel.“ „Und deswegen lastet nun ein Fluch auf Ihnen?“ „Also naja, es kann sein, dass mein Bruder ein wenig wütend wurde, als er meine Missetaten bemerkte. Und wir sind ein wenig in Streit geraten. Und dann nahm ich den großen vergoldeten Kerzenleuchter.“ „Sie haben auch noch einen Kerzenleuchter gestohlen?“ „Oh, nein! Wo denkst du hin? Ich habe ihn nicht gestohlen. Ich habe ihn meinem Bruder über den Schädel gezogen!“ „Oh!“, sagte Klara und schluckte. Nun war ihr doch wieder ein wenig mulmig zumute. „Keine Sorge, junges Fräulein. Ich habe meine Strafe erhalten und auch wenn mein Leben nicht vorbildlich war, meinen Aufgaben als Gespenst bin ich jederzeit pflichtbewusst nachgekommen. Spuken von Mitternacht bis 1 Uhr morgens, naja, manchmal schlafe ich eben auch ein wenig länger. Aber ich suche nur die Hausbewohner heim, die es wirklich verdient haben. Wie du sicher weißt, kann ein Spukgespenst den Ort seiner größten Missetaten Zeit seines Todes nicht verlassen. Und ich muss mir das Haus mit diesen beiden Spukköpfen teilen, die sich einen Spaß daraus machen, ein anständiges Gespenst zu ärgern und zu quälen, wann es nur geht! Und so kam es, dass ich in meiner Verzweiflung heute dich unschuldiges junges Ding heimgesucht habe!“ Das Gespenst schluchzte. „Schon gut“, meinte Klara. Sie dachte nach und hätte vor lauter Nachdenken beinahe überhört, das aus dem Keller wieder das Rumpeln und Poltern zu hören war. Genau wie in der letzten Nacht. „Nein, das ist sicher kein Waschbär“, dachte Klara. „Ich glaube, ich habe eine Idee, wie ich Ihnen helfen kann“, sagte sie dann zu dem Geist, der noch immer vor ihr schwebte. „Mir helfen? Oh, das habe ich wirklich nicht verdient. Aber ich brauche meinen Kopf! Ohne ihn fühle ich mich irgendwie, irgendwie…“ „Kopflos?“, schmunzelte Klara. „Ja, kopflos.“ „Wir werden ihren Kopf wiederholen. Sagen Sie mal, Sie konnten mich vorhin nicht anfassen. Können Gespenster Dinge nicht berühren?“ „Oh, doch! Aber nur tote Dinge! Totes kann nur Totes greifen.“ „Nur Totes – hm – gut. Ich brauche ein wenig Zeit für Vorbereitungen. Übermorgen sind meine Eltern abends wieder fort. Wir treffen uns um Mitternacht hier im Wohnzimmer. Bis dahin habe ich alles erledigt.“ „Oh, wunderbar, wunderbar! Ich werde pünktlich sein!“ „Ich freue mich darauf“, sagte Klara. „Aber eine Frage noch: wie heißen Sie eigentlich?“ „Ach, nenn mich doch einfach den blassen Baron. Das ist mein liebster Spukname.“ „Gut, Herr blasser Baron. Ich bin übrigens Klara.“ „Ich weiß, ich weiß“, sagte das Gespenst. Klara hörte in der Ferne die Kirchturmuhr einmal schlagen. Die Gestalt des blassen Barons wurde noch blasser bis sie schließlich nicht mehr zu sehen war. „Ende der Geisterstunde“, murmelte Klara und fragte sich kurz, ob das alles gerade tatsächlich passiert war. Aber ja, sie hatte auf gar keinen Fall geschlafen. Und eine Erklärung für das nächtliche Rumpeln und Poltern im Keller hatte sie nun auch. Sie war sich ganz sicher, wo der Kopf des blassen Barons zu finden wäre.

Der nächste Tag war ein Sonntag und die Eltern fanden Klara ungewöhnlich geschäftig vor. Am Vormittag sahen sie ihre Tochter im Garten unter den Kastanienbäumen entlangstreifen. Es war Herbst und ein starker Wind hatte unzählige Kastanien von den Bäumen fallen lassen. Klara sammelte zwei Eimer voll. „Sie scheint langsam Spaß an unserem Garten zu finden!“, meinte Klaras Vater erfreut. Später am Tag lief Klara die Kellerstiege mit einem Stück Kreide in der Hand auf und ab. „Was ist das nur für ein Spiel?“, fragte die Mutter. „Hm, sie scheint sich langsam auch mit dem neuen Haus zu arrangieren“, antwortete Klaras Vater. Beim gemeinsamen Abendessen wirkte Klara gedankenverloren. Was, wenn ihr Plan nicht funktionierte? Was, wenn die Eltern vor Mitternacht wieder nach Hause kämen? Was, wenn das Rumpeln im Keller doch von einem Waschbär und nicht von zwei frechen Gespenstern kam? Was, wenn frisch vom Baum gefallene Kastanien nicht tot genug waren um… „Geht es dir gut, Klara Schatz?“, fragte die Mutter. „Ja, ja, es ist nur – ich bin etwas müde, die ganze frische Luft, die Bewegung im Garten und so.“ Die Eltern lächelten zufrieden. Und Klara konnte es kaum abwarten bis zum nächsten Abend.

„Klara, können wir dich wirklich alleine lassen?“, fragte der Vater, der schon abfahrbereit im guten Anzug im Flur stand. „Du hast uns vorgestern schon so ungerne gehen lassen. Und wir waren wirklich oft abends fort in letzter Zeit.“ Klara erschrak. Was für ein Tag. Am Morgen war die Mutter mit Kopfschmerzen aufgewacht und Klara hatte schon befürchtet, dass sie deswegen abends nicht ausgehen würde. Zum Glück waren Herbstferien. Klara musste an diesem Montag nicht in die Schule und konnte sich des Problems annehmen. Sie hatte sich vor lauter Fürsorge beinahe überschlagen. Sie hatte der Mutter Unmengen an Tee gekocht, Wärmflaschen bereitet, darauf bestanden, dass sie im Bett liegen blieb. Und tatsächlich ging es der Mutter am Nachmittag wieder besser. Und jetzt das! „Ach Papa, das ist furchtbar lieb, aber wie ihr schon gesagt habt: heute Abend noch einmal und dann liegt länger nichts an.“ „Bist du dir sicher, Schatz? Ich meine, deiner Mutter ging es heute ohnehin nicht so gut und…“ „Aber ihr habt euch schon so lange auf das Theaterstück gefreut. Geht ruhig. Und dafür machen wir morgen Abend etwas gemeinsam!“

„Sie ist so vernünftig geworden“, sagte der Vater zur Mutter als sie im Auto saßen. „Ich glaube, der Umzug hat ihr doch gutgetan.“ Der Wagen rollte über den knirschenden Kies aus der Einfahrt. Klara beobachtete aus ihrem Zimmerfenster, wie die Rücklichter sich langsam entfernten. Kaum war der Wagen mit ihren Eltern verschwunden, begann Klara mit den letzten Vorbereitungen für ihren Plan. Sie öffnete die Kellertür, trug die Eimer mit den gesammelten Kastanien die Stiege hinunter und stellte sie am Fuß der Treppe ab. Anschließend ging sie wieder nach oben und ließ die Kellertür weit geöffnet. Klara setzte sich ins Wohnzimmer. Bis zur Geisterstunde waren es noch immer gut vier Stunden. Und diese vier Stunden zogen sich wie Kaugummi. Klara versuchte sich zunächst mit Fernsehen abzulenken, doch sie war viel zu aufgeregt, um der Handlung des Films folgen zu können. Sie nahm sich ein Buch und begann zu lesen, doch ihre Gedanken schweifen immer wieder ab. Sie ging in die Küche und machte sich etwas zu essen, doch eigentlich hatte sie überhaupt keinen Hunger. Also setzte sie sich schließlich einfach aufs Sofa und wartete. Und wartete. Und wartete. Und endlich, endlich hörte sie die Kirchturmuhr in der Ferne Mitternacht schlagen. Kaum war der letzte Glockenton verklungen, spürte Klara ihn wieder. Den eiskalten Hauch in ihrem Nacken. Die Kälte breitete sich aus und vor ihr bildete sich langsam, ganz langsam die Gestalt des blassen Barons aus. „Guten Abend“, raunte der Geist höflich, als auch der letzte Fingerknochen deutlich zu erkennen war. Und wieder war sich Klara nicht sicher, ob sie die Stimme nur in ihrem Kopf hörte oder ob sie tatsächlich durch den Raum klang. „Guten Abend, Herr Baron“, begrüßte Klara das Gespenst respektvoll. „Sobald wir es im Keller rumpeln hören, werden wir mit der Aktion ‚Nie wieder kopflos‘ beginnen. Mein Plan ist sehr einfach, aber wir müssen sehr leise sein. Doch ich denke, das ist kein Problem für Sie.“ „Aber nein, aber nein. Wenn ich in den Jahren meiner Gespensterschaft etwas gelernt habe, dann ist es, leise zu sein. Wie sollte ich sonst jemandem einen ordentlichen Schreck einjagen, wenn ich mich nicht vernünftig anschleichen könnte?“ Klara lauschte. Aus dem Keller war noch nichts zu hören. Klara hoffte, das Rumpeln würde nicht zu lange auf sich warten lassen. Sie wusste nicht so Recht, worüber sie sich mit dem blassen Baron unterhalten sollte. Außerdem war dies vorerst die letzte Möglichkeit, dem Gespenst bei der Wiederbeschaffung seines Kopfes zu helfen. Nach diesem Abend hatten die Eltern für längere Zeit keinen Ausflug mehr in die Stadt geplant und sie hätten sicher wenig Verständnis, wenn ihre Tochter sich mitten in der Nacht auf Geisterjagd begibt. „Wenn Sie täglich nur eine Stunde wach sind und herumspuken müssen, dann bekommen Sie ja ganz schön viel Schlaf“, meinte Klara. Die Bemerkung war sicher nicht die Klügste, doch die erste, die ihr eingefallen war, um die unangenehme Gesprächspause zu füllen. „Oh, ja tatsächlich“, antwortete der blasse Baron. „So ausgeschlafen wie in den letzten 300 Jahren habe ich mich zu meinen Lebzeiten nie gefühlt. Dies ist eindeutig einer der Vorteile am Dasein als Geist.“ Die leicht nebelige Gestalt des blassen Barons waberte nun wieder schweigend vor Klara umher und obwohl er keinen Kopf hatte, wurde sie das Gefühl nicht los, dass das Gespenst sie erwartungsvoll anstarrte. Aus dem Keller war noch immer kein Geräusch zu hören. „Tja. Ihr Bruder. Hm, haben sie eigentlich je bereut, ihn erschlagen zu haben?“ Schon im nächsten Moment bereute Klara ihre Frage. Sie war vielleicht doch ein wenig zu persönlich. Aber der Baron setzte breitwillig zu einer Antwort an. „Um ehrlich zu sein, mein Bruder war ein ziemliches Ekelpaket und dabei so hochnäsig, dass es kaum auszuhalten war. Es würde mich nicht wundern, wenn er auch an einem Ort seiner Missetaten bis in alle Ewigkeit herumspuken müsste – zum Beispiel an dem kleinen Weiher im Wald, an dem er als Kind immer die Frösche gefangen und sie dann…“ Ein Poltern unterbrach die Erzählung des blassen Barons. „Da! Hören Sie nur!“, zischte Klara dem Gespenst zu. „Ich bin sicher, das sind die Zwillinge. Wir werden nun leise die Kellertreppe hinunterschleichen. Das heißt, ich schleiche, Sie schweben.“ Klara merkte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Es ging los. Klara stand leise vom Sofa auf und schlich zur offenen Kellertür. Der blasse Baron hatte sich vorsichtshalber unsichtbar gemacht, doch Klara spürte seine Kälte. Sie konnte regelrecht fühlen, wie er hinter ihr herschwebte. Klara schaltete kein Licht an. Zum Glück waren die weißen Markierungen, die sie auf der Kellerstiege gemacht hatte, in der Düsternis recht gut zu sehen. Stundenlang war sie tags zuvor die Treppe hinauf und wieder hinunter gegangen, um die Stellen auf den Stufen mit weißen Kreuzen zu versehen, die nicht knarzten oder knackten, wenn man auf sie trat. Nur so war es ihr nun möglich, ganz leise, ohne ein verräterisches Geräusch die Stiegen hinunterzusteigen. Und es funktionierte. Das rumpelnde Geräusch war weiterhin zu vernehmen. Die Zwillinge schienen Klara und den blassen Baron nicht zu bemerken. Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen Klara und der Baron unten an der Treppe an und da konnte Klara sie sehen: zwei grünlich durchscheinende, leuchtende Gestalten, nicht größer als sie selbst. Ihre Kleidung war altertümlich. Die eingestaubt wirkenden Haare zwei wirre Lockenköpfe. Die beiden waren ganz und gar in ihr Spiel vertieft. Und dieses Spiel bestand darin, den Schädel des blassen Barons als Fußball zu benutzen. Klara hob beschwichtigend die Hand, denn hinter sich hörte sie, wie der Baron leise vor Wut zischte. Was nun folgte, erforderte noch einmal Klaras höchste Konzentration und zugleich Schnelligkeit. Vorsichtig griff Klara mit jeder Hand einen mit Kastanien gefüllten Eimer und kippte diese dann blitzschnell auf dem Kellerboden aus. Die Kastanien rollten den Zwillingen zwischen die grünlich schimmernden Schnallenschuhe. „Was zum Teufel ist daaaaa…“, konnte der ein Zwilling gerade noch ausrufen, bevor ihn und seinen Bruder die Kugeln zu Fall brachten und er auf seinem adeligen Allerwertesten landete. Da saßen sie und schauten verdutzt, die Gespensterzwillinge. „Ihr Kopf, Herr Baron, ich glaube, Sie können ihn nun wieder an sich nehmen“, sagte Klara. Der blasse Baron wurde langsam wieder weniger blass, und schwebte zu seinem Schädel, der den Zwillingen ein breites Siegergrinsen schenkte. Der Baron nahm seinen Kopf in die Hände und drehte ihn geschickt auf seinen Hals. „Aaah“, seufzte er zufrieden, um im nächsten Moment eine Tirade von Flüchen auf die Zwillinge niederzulassen. „Und lasst euch ja nicht einfallen, euch unsichtbar zu machen! Wir sind noch nicht fertig miteinander!“, endete der Baron vorerst. Die Zwillinge hatten in der Zeit versucht, sich wieder aufzurappeln, was angesichts des Kastanienhaufens am Boden selbst für Gespenster nicht allzu einfach zu sein schien. Klara war zufrieden. Sie hatte befürchtet, frisch vom Baum gefallene Kastanien seien vielleicht nicht tot genug, um Geister zu Fall zu bringen. Doch ihre Idee hatte einwandfrei funktioniert. „Ich denke, ihr schuldet dem blassen Baron noch eine Entschuldigung“, ermahnte Klara die Zwillinge. Die beiden sahen entgeistert von Klara zu ihrem Onkel und wieder zurück. „Warum hat sie keine Angst vor uns?“, fragte der eine von beiden schließlich. „Vielleicht, weil sie durchschaut hat, dass man sich vor zwei solch albernen Kindsköpfen nicht fürchten muss!“, erwiderte der blasse Baron. Und Klara sagte: „Also los, entschuldigt euch! Oder muss ich euch erst zeigen, warum IHR Angst vor MIR haben solltet? Denn während ihr für gewöhnlich 23 Stunden am Tag verschlaft, habe ich sehr viel Zeit, euch aufzuspüren und euch ein paar Streiche zu spielen!“ Die Zwillinge funkelten Klara böse an, dennoch brachten beide ein leises „Entschuldigung, Ururgroßonkel“ heraus. „Dann wäre diese Geschichte ja geklärt“, sagte Klara. „Aber lasst euch ja nicht einfallen, euren Onkel weiterhin zu belästigen, sonst bekommt ihr es mit mir zu tun.“ Mit diesen Worten machte Klara sich an die Arbeit, die Kastanien wieder einzusammeln. Sie fürchtete, ihr blieb nicht mehr viel Zeit, bevor ihre Eltern zurückkehren würden. „Fräulein Klara, ich bedanke mich in aller Form für die Hilfe“, sagte der blasse Baron. „Und ihr zwei Gören helft dem Fräulein Klara gefälligst beim Kastanien einsammeln!“ Und tatsächlich, die Zwillinge machten sich an die Arbeit, mit ein wenig Murren, aber dennoch ging es so viel schneller. Als sie fertig waren, zeigte Klaras Armbanduhr bereits kurz vor eins. „Eure Zeit ist wohl erst einmal um“, wandte sich Klara in versöhnlichem Ton an die Zwillinge. „Wisst ihr was? Wenn meine Eltern das nächste Mal abends aus sind, bringe ich einen richtigen Fußball mit in den Keller.“ Diese Ankündigung ließ die Zwillinge fast ein wenig freundlich gucken. „Fräulein Klara, du bist zu nett zu den beiden. Aber ich denke, alles ist besser für sie, als zu viel der Langeweile. Das bringt sie nur auf unsinnige Ideen!“ In der Ferne schlug die Kirchturm Uhr einmal, die Gestalt des Barons wurde langsam wieder blasser und das grünliche Schimmern der Zwillinge ließ nach bis alle drei schließlich ganz verschwunden waren und Klara allein im Keller zurückblieb. Doch der Keller machte ihr nun keine Angst mehr. Sie räumte noch in aller Ruhe die Eimer mit den Kastanien fort und ging dann zufrieden ins Bett. So langweilig war es gar nicht – das Landleben. Und an den Abenden, die ihre Eltern demnächst in der Stadt verbringen sollten, würde sie auf jeden Fall in bester Gesellschaft sein.

© Michaela Groß 2019