Das Silberbein

Ich habe mich schon als Kind gerne gegruselt und liebend gerne Geschichten gehört, die mir einen Schauer über den Rücken gejagt haben. Der beste (Grusel-)Geschichtenerzähler war mein Papa. Von ihm kenne ich die Lagerfeuerklassiker, aber er hat sich auch selbst spannende Geschichten ausgedacht. Einmal hat er bei einem Abendspaziergang eine Geschichte erzählt, die so gruselig war, dass meine Schwester sich vor lauter Spannung an unserer Mutter regelrecht festgekrallte. Und am Höhepunkt der Geschichte hat sie sich so erschrocken, dass sie unserer Mutter ein Loch in die Hose riss.

Herbst und Winter, besonders die Zeit um Halloween sind meiner Meinung nach die beste Gruselgeschichtenzeit. Darum habe ich heute einen Gruselgeschichtenklassiker für Euch, mit dessen Hilfe ich meinem Zehnjährigen schon einen ordentlichen Schreck eingejagt habe. Kleidungsstücke mussten dabei jedoch nicht dran glauben. Diese Geschichte wirkt am besten, wenn sie frei erzählt wird. Vor dem letzten Satz macht man am besten eine künstlerische Pause, um das ‚DAAAAAA‘ laut und plötzlich herauszurufen und den Zuhörern einen ordentlichen Schrecken einzujagen. Aber nun zur Geschichte:

Wusstet Ihr, dass nicht weit vor hier einst ein Schloss stand? Es war einmal recht prunkvoll gewesen, doch mit den Jahrzehnten und Jahrhunderten kam es soweit, dass eines Tages nur ein alter Graf und sein Diener in einem halbverfallenen Gemäuer lebten.

Der Graf und sein Diener kannten sich schon seit ihren Jugendtagen, in denen sie im selben Regiment gedient hatten. In einem längst vergangenen Krieg hatten sie Seite an Seite gekämpft und in einer großen Schlacht beide ihr linkes Bein verloren. Seither trug der Graf ein wertvolles Silberbein. Der Diener jedoch trug ein einfaches Holzbein.

Als der Graf in hohem Alter nach einer kurzen, schweren Krankheit verstarb, war der treue Diener der einzige, der die Totenwache für ihn hielt. Er saß am Bett seines Herrn und dachte sich: „Im Grab wird der Herr sein Silberbein nicht mehr brauchen. Mir würde es jedoch wohl anstehen.“ So nahm der Diener dem Grafen kurzerhand das silberne Bein ab und tauschte es gegen sein Holzbein. Mit dem Holzbein wurde der Graf nun zu Grabe getragen und in der Familiengruft beigesetzt.

Der Diener blieb allein in dem alten Schloss zurück. Der einzige Erbe des Grafen war ein entfernter Verwandter, der in Übersee lebte und sich nicht für das verfallene Gemäuer interessierte.

Zu Lebzeiten des Grafen war der Diener dafür zuständig gewesen, des Abends alle Türen und Fenster des Schlosses fest zu verschließen. Und aus alter Gewohnheit und weil es ihm doch etwas unheimlich war, so ganz allein in den großen, alten Bauwerk schloss der Diener auch nach dem Tod seines Herrn jeden Abend alle Türen und Fenster. Jede Nacht waren da nur noch der Diener, ein knisternden Feuer im offenen Kamin und der Wind, der an Fenstern und Türen rüttelte.

Doch eines Abends, etwa zehn Tage nach der Beerdigung des alten Grafen, war da noch etwas anderes. Es war gegen Mitternacht, der Diener lag bereits in seinem Bett. Da hörte er ein ungewöhnliches Geräusch im Gang vor seinem Gemach. Klack, klack, machte es auf dem Steinboden. Klack, klack. Und leise, leise war eine Stimme zu hören. „Wo ist mein Bein? Wo ist mein silbernes Bein?“ Der Diener zitterte vor Angst und wagte nicht, sich zu rühren. Doch so schnell, wie er gekommen war, war der Spuk auch wieder vorbei. Den Rest der Nacht fand der Diener kaum Ruhe. Und wenn er doch in einen kurzen Schlaf fiel, dann träumte er vom Krieg, vom alten Graf und von der düsteren Familiengruft.

Am nächsten Tag brachte der Diener ein großes Schloss an der Familiengruft an und schloss Abends die Türen und Fenster des Schlosses besonders sorgfältig. Er kontrollierte zwei Mal, ob er auch wirklich jeden Riegel geschlossen hatte. Dennoch ging er mit einem unguten Gefühl zu Bett. Zwar schlief der Diener aufgrund seiner großen Müdigkeit zunächst schnell ein, doch war sein Schlaf unruhig und von Alpträumen geplagt. Und dann, um Mitternacht, schreckte er auf. Klack, klack – da war es wieder. Direkt vor der Tür seines Schlafgemachs. Der Diener sah, wie der Türknauf bewegt wurde. „Wo ist mein Bein? Wo ist mein silbernes Bein?“ Der Türknauf quietschte leise. Doch dann – plötzlich – war es wieder still. Der Spuk war vorbei. Der Diener zitterte wie Espenlaub. An Schlaf war nicht mehr zu denken.

Am nächsten Morgen rollte der Diener einen großen Findling vor die Tür der Familiengruft. An Türen und Fenstern des Schlosses brachte er neue Schlösser und Riegel an. Und als er sich Abends zu Bett begab, verschloss er sorgfältig die Tür seines Zimmers und schob eine schwere Kommode von innen davor. Doch trotz all seiner Vorsichtsmaßnahmen fand der Diener nicht in den Schlaf. Er wälzte sich im Bett umher. Er hörte die große Standuhr unten in der Schlosshalle schlagen. Dong, dong, dong… Zwölf Schläge zählte er. Und dann – klack, klack. Da war es wieder. Das unheilvolle Geräusch. Ganz nah. Der Diener verkroch sich zitternd unter seiner Bettdecke. Er hörte den Türknauf quietschen. Klack, klack hörte er es nun direkt neben sich. Wie war das möglich, trotz Schloss und Kommode? „Wo ist mein Bein, mein silbernes Bein?“, tönte die Stimme des Grafen. Der Diener schwitzte unter der Decke und hielt den Atem an.

„DAAAAAA ist mein Bein!“