Winifred war furchtbar aufgeregt. Schon zehn Minuten bevor die alte Standuhr in der großen Halle mit lauten Schlägen die Mitternachtsstunde ankündigte, kam sie aus ihrem Schrank geschossen. „Es ist so weit, heute ist es so weit!“, rief sie aufgeregt. Winifreds Geschrei führte dazu, dass auch ihre Eltern und ihr Bruder Lorenz aufschreckten. Mit einem heftigen Schlag öffnete Lorenz seine Truhe, strich sich missmutig die Spinnweben aus dem Gesicht und murmelte verärgert „Was soll der Krach? Einen Moment dachte ich, die Hunnen fallen bei uns ein!“ Gähnend krabbelt er aus seiner Truhe und rief nach seinen Eltern bis Margeaux und Bartholomäus von Eisenfels schließlich aus ihrer Kammer schwebten. Margeaux hatte auch in den 800 Jahren ihres Gespensterdaseins nichts von ihrer adeligen Haltung eingebüßt, auch wenn es sich wirklich schwierig gestaltete, eine gewisse Eleganz beizubehalten, wenn man nicht mehr erhobenen Hauptes, sondern mit dem Kopf unter dem Arm stolzieren musste. Vater Bartholomäus hatte nicht unter diesem Problem zu leiden, doch quietschte und knarzte seine Rüstung heute einmal wieder ungemein und er verfluchte im Stillen, dass er auf ewig dazu verdammt war, sie zu tragen. „Kinder! Was soll der Aufruhr!“, entsetzte sich Mutter Margeaux. „Ich habe Hunger!“, nörgelte Lorenz. „Mein lieber Junge. Du bist seit 800 Jahren tot, du kannst keinen Hunger haben“, mahnte ihn sein Vater. „Na gut, ich erinnere mich daran, wie es war, Hunger zu haben und das ist genauso schlimm!“ „Also gut, halt das bitte“, sagte Margeaux, drückte Lorenz ihren Kopf in den Arm und klatschte in die Hände. „Brunhilda! Steh bitte auf und bereite uns ein kleines Mahl!“ Kaum hatte sie die Worte gesprochen, kam klappernd ein Skelett vom Dachboden die Treppe herunter. „Wie wäre es mit blanchierten Rattenschwänzen in fauligen Kohlblättern?“, fragte Brunhilda ehrfurchtsvoll. „Ausgezeichnet, ganz wunderbar“, stimmte Margeaux zu und nahm Lorenz wieder ihren Kopf ab. Brunhilda deutete eine kleine Verbeugung an und verschwand klappernd und ein Liedchen trällernd in der Küche. Die gute Brunhilda war schon immer eine Frohnatur gewesen und daran konnte auch die Tatsache nichts ändern, dass sie wohl niemals in den verdienten Ruhestand treten und für den Rest der Zeit als einzig verbliebenes Küchenmädchen bei den von Eisenfels dienen musste. „Aber Mama! Wir haben heute keine Zeit für so etwas!“, rief Winifred aufgeregt. „Ihr müsst mich in die Gruft bringen!“ „In die Gruft? Aber wieso…“, doch da fiel es Margeaux wieder ein. „Ja richtig, mein Kind. Du nächtigst ja heute bei den Sanguinpotums.“ Die Sanguinpotums waren die Vampirfamilie, die nun bereits seit einigen Jahren in der Familiengruft der von Eisenfels‘ lebte oder besser gesagt, nicht lebte. Die Vampirfamilie hatte einen schrecklichen Schicksalsschlag erlitten. Nach über 400 Jahren in ihrer eigenen Gruft wurde der alte Friedhof, auf dem sich die Grabstätte befand, dem Erdboden gleich gemacht. Man wollte Platz schaffen für einen riesigen Supermarkt. Zunächst hatten die Sanguinpotums versucht, das Beste aus ihrer Situation zu machen, doch nach einigen unangenehmen Zwischenfällen im Lager für Tiefkühlkost, in dem sie versucht hatten sich heimelig einzurichten, packten sie ihre sieben Sachen und machten sich auf die Suche nach einem neuen zu Hause. So standen sie eines Nachts vor Burg Eisenfels, einem abgelegenen und denkmalgeschützten Gemäuer und damit einem regelrechten Paradies für Gespenster und Untote, die schlechte Erfahrungen mit den Lebenden gemacht hatten. Die Vampire fragten die dort ansässige Gespensterfamilie in aller Form, ob sie nicht ihre Familiengruft vermieten wollten. Da der letzte lebende Nachfahre der Familie von Eisenfels bereits vor über 100 Jahren verstorben war und in der Gruft noch genügend Platz für ein paar Tote oder eben auch Untote war, den die von Eisenfels selbst nicht nutzten, sagten sie schließlich zu. Und auch wenn Margeaux von Eisenfels, stets auf die Einhaltung aller möglichen und unmöglichen Regeln bedacht, zunächst skeptisch war, ob es denn zulässig sei, dass Vampire eine andere als die eigene Gruft bewohnten und ob eine so enge Nachbarschaft mit diesen fremden Untoten sich auch geziemte, so waren die Familien über die Jahre doch so etwas wie Freunde geworden oder lebten zumindest in respektvoller bis freundlicher Nachbarschaft zusammen. Vor allem, da die Burg nun schon seit so vielen Jahren keine Lebenden mehr bevölkerten und man sich zur Geisterstunde kaum noch mit Spuken die Zeit vertreiben konnte, war es doch gut, ein wenig Gesellschaft um sich zu wissen und ab und an ein Tässchen warmes Mäuseblut miteinander trinken und von den alten Zeiten reden zu können.
Besonders gut verstanden sich das Gespenstermädchen Winifred, das am liebsten durchscheinend und nur mit einem weißen Nachthemd bekleidet im Burgturm herumgeisterte und der Vampirjunge Wilhelm, der nach all den Jahren als Vampir noch immer Schwierigkeiten hatte, sich in eine Fledermaus zu verwandeln. Winifred genoss es sehr, nicht mehr allein im Burgturm herumgeistern zu müssen. Früher hatte sie hier gerne Burgfräulein erschreckt, die bevorzugt auf den Turm stiegen, wenn sie von Liebeskummer geplagt wurden. Sie kamen herauf, starrten wehmütig über die weiten Felder und Wälder und seufzten ab und an tief oder schnäuzten in weiße, bestickte Taschentücher. Dann kam Winifred um die Ecke. Sie schwebte von hinten, fast noch unsichtbar, immer näher an das jeweilige Burgfräulein heran, so dass dieses das junge Gespenst erst als eiskalten Windhauch wahrnahm. Dann seufzte Winifred ihrerseits tief und schwer, was für gewöhnlich dazu führte, dass sich das Burgfräulein ängstlich umdrehte. In diesem Moment schoss Winifred, nun kaum noch durchscheinend und mit weit aufgerissenen Augen um das Burgfräulein herum. Das Burgfräulein drehte sich um die eigene Achse, starrte in Winifreds riesenhafte Augen, stieß einen spitzen Schrei aus und flüchtete so schnell es konnte die schmale Wendeltreppe hinab. Dies war immer Winifreds liebster Spuk gewesen und sie war ungemein stolz, als sie hörte, dass in der Burg das Gerücht umging, der Geist einer holden Jungfer, die sich einst vor Liebeskummer vom Turm herabgestürzt hatte, treibe auf eben jenem sein Unwesen. Eine solche Geschichte brauchte ein jedes gutes Gespenst, auch wenn die Legende nicht stimmte, denn Winifred war in einem kalten Winter einer heftigen Grippe erlegen und das in so jungen Jahren, dass sie noch nicht einmal die Gelegenheit gehabt hatte, sich überhaupt jemals zu verlieben. Überhaupt war das Geisterdasein von Winifred und ihrer Familie weitaus weniger aufregend zustande gekommen, als man meinen könnte. Aufgrund besagter Grippe waren nämlich auch ihr Bruder Lorenz und ihre Eltern verstorben – die ganze Familie im Abstand von nur wenigen Tagen dahingerafft von heftigem Fieber. Dass ihre Mutter ihren Kopf unter dem Arm tragen musste war demnach nicht mit einer Geschichte von Mord und Totschlag, Rache oder politischen Wirrungen in Verbindung zu bringen, sondern einem sehr unerfreulichen Unfall bei Bauarbeiten im Schloss vor etwa 150 Jahren zu verdanken, über den Margeaux nicht gerne sprach. Und dass Vater Bartholomäus in seiner quietschenden Rüstung die Nächte verbringen musste, war schlicht und einfach der Tatsache zu verdanken, dass er in seinem Testament festgelegt hatte, als stolzer Ritter in eben jener Rüstung begraben zu werden. Überhaupt geisterte die Familie von Eisenfels nicht aufgrund fehlender Erlösung, unerledigter Aufgaben oder schrecklicher böser Taten seit 800 Jahren jede Nacht zur Geisterstunde durch die Gänge des alten Gemäuers. Dies hatten sie einzig und allein einem Fluch zu verdanken, den eine alte Hexe mit recht ungezügeltem Temperament über den noch jungen Bartholomäus von Eisenfels verhängt hatte, als dieser sie im Vorbeireiten versehentlich mit Matsch bespritzte. Und obwohl Bartholomäus sich bei der Alten ehrlich und aufrichtig entschuldigte, der Fluch war nicht mehr abzuwenden, denn den Gegenzauber hatte die betagte Dame unglücklicherweise vergessen. Doch die Familie trug ihr Schicksal mit Fassung und wie im Leben so machten sie auch im Tode das Beste aus ihrer Situation. Einzig das gute Hausmädchen Brunhilda verdankte sein Geisterdasein einer ungelösten Aufgabe. Sie war schon einige Zeit vor den von Eisenfels‘ verstorben. Mitten in der Zubereitung eines feinen Gänsebratens für ein Fest erlag die damals schon betagte Brunhilda in all dem Trubel, der gerade in der Küche herrschte, einem Herzinfarkt. Sie fiel mitten in einen Haufen mit Kohlköpfen und wurde von der Familie ehrlich betrauert und würdevoll begraben. Doch der unfertige Gänsebraten, der ihr bester hatte werden sollen für diesen besonderen Anlass, ließ der guten Brunhilda einfach keine Ruhe und so stieg sie nach einigen Monaten wieder aus ihrem Grab, um ihr Meisterwerk zu vollenden. Doch gehörten inzwischen auch die von Eisenfels zur Geisterwelt, die Burg war ansonsten verwaist und es dauerte Jahre, bis ein entfernter Verwandter gefunden war, der sie erben konnte und wieder mit neuem Leben füllte. Und weil Geister keinen Gänsebraten essen, begnügte sich Brunhilda nun damit, Rattenschwänze zu blanchieren und Rüben so zu lagern, dass sie möglichst schnell faulten.
Nun war es also so weit, Winifred durfte das erste Mal ihren Freund Wilhelm in der Gruft besuchen und ihr war sogar erlaubt worden, nach Ende der Geisterstunde statt in ihrem Schrank in der Burg in einem Sarg in der Gruft zu schlafen. Winifred war schrecklich aufgeregt, denn seit vielen Jahrhunderten war sie nicht mehr außerhalb der Burg gewesen. War ihre Mutter schon zu ihren Lebzeiten überaus besorgt und überfürsorglich gewesen, so war sie dies noch mehr, seit sie ein Gespenst geworden war und sich die größten Vorwürfe machte, ob es nicht allein ihre Schuld gewesen sei, dass ihre Kinder nun ein Dasein als Geister führten, noch viel mehr. Hätte sie nicht besser darauf achten müssen, dass die Kinder auch immer brav ihre Mützen über die Ohren zogen oder ihnen in jenem kalten Winter, in dem die schicksalhafte Grippe die Familie ereilte, nicht ganz und gar verbieten sollen, nach draußen in die Kälte zu gehen? Zudem hielt Margeaux es für unschicklich, dass ihre Tochter zu den Sangiunpotums, die zwar ebenfalls von vornehmer, aber eben nicht von adeliger Abstammung waren, in die Gruft schwebte. So kam Wilhelm meist kurz nach den ersten Schlägen der großen Standuhr, die um Mitternacht die Geisterstunde einläuteten, in die Burg geflogen. Da Wilhelm als Vampir nicht an die Geisterstunde, sondern nur an die Dunkelheit gebunden war, hatte er meist vorher schon lange Zeit ungeduldig am Burgtor gewartet und sich die Zeit damit vertrieben, kleine Steinchen in das trübe Wasser des Burggrabens zu werfen. Doch heute Nacht wartete Wilhelm in der Gruft, denn nach langem Hin und Her und Einsatz der Überredungskünste von Ritter Bartholomäus, war es gelungen, Margeaux davon zu überzeugen, Winifred in die Gruft zu lassen. Kaum weniger als Winifred freute sich ihr älterer Bruder Lorenz darüber. Er war überglücklich, die Burg endlich einmal für sich zu haben, ohne dass seine kleine Schwester sich plötzlich neben ihm sichtbar machte und neugierig fragte „Was machst du gerade?“ Und so zog sich Winifred eine dicke Wollmütze an und wand sich einen meterlangen Schal um den Hals. Dies war Margeauxs Bedingungen dafür gewesen, dass sie ihre Tochter nach draußen und in die Gruft ließ. „In der Gruft ist es furchtbar zugig!“, sagte sie nur und stolzierte beleidigt davon, als ihr Mann scherzhaft meinte, noch einmal könne sich Winifred wohl kaum den Tod holen. Winifred ähnelte nun eher einer unförmigen Mumie als einem kleinen Gespenst, doch störte sie die dicke Kleidung nicht, sie war viel zu erfreut über die kommende Abwechslung.
Schließlich schwebte Winifred, begleitet von ihrem Vater, durch das große Burgtor. Sie sog die kühle Nachtluft tief ein und plusterte sich damit auf wie ein kleiner Ballon. Dann atmete sie aus, bis sie ihre eigentliche Form wieder hatte und lachte. Der Himmel war von schweren Wolken verhangen und es war eine wirklich dunkle Nacht. Winifred und Bartholomäus schwebten über die Zugbrücke und ein Stück über das angrenzende Land bis sie zu einer kleinen Kapelle und einem verwitterten alten Friedhof mit großem Eisentor und zahlreichen windschiefen Grabsteinen und steinernen Kreuzen kamen. Im hinteren Bereich des Friedhofs befand sich ein kleines, aber auffällig verziertes Gemäuer mit einem großen steinernen Engel vor dem Eingang – die Gruft der Familie von Eisenfels. Wilhelm wartete bereits vor der Gruft auf seine Freundin und hüpfte aufgeregt auf und ab. „Komm rein, komm rein!“, rief er begeistert. „Ich hätte dich ja fast nicht erkannt!“ Winifred gab ihrem Vater einen Abschiedskuss auf das Visier und schwebte mit Wilhelm in die Gruft. „Morgen zur Geisterstunde hole ich dich wieder ab!“, rief ihr Vater ihr noch nach, doch Winifred hörte ihn schon nicht mehr. In der Gruft wurde Winifred von Wilhelms Eltern begrüßt. Mutter Colgata bot Winifred etwas Mäuseblut an und Wilhelms Vater Edelbert schaute kurz hinter dem Buch hervor, mit dem er es sich in seinem Sarg bei flackerndem Kerzenlicht gemütlich gemacht hatte. Winifred und Wilhelm verkrümelten sich in den hinteren Teil der Gruft. Winifred hatte ihrem Freund versprochen, mit ihm Fledermausverwandlung zu üben. Doch auch nach dem zehnten Anlauf wollte es nicht so recht klappen. Zwar flatterte Wilhelm munter als Fledermaus herum, doch hatte das kleine schwarze Tier eine auffällig menschliche, große und schweinchenrosafarbene Nase und auch das rechte Ohr ähnelte weniger dem einer Fledermaus, als vielmehr Wilhelms auffälligen großen Segelohren. Und da Fledermäuse sich über ihr Gehör orientieren, musste Winifred ihren Freund mehrmals davor bewahren gegen Säulen oder Särge zu flattern. So hatten die beiden schließlich keine Lust mehr zu üben und entschlossen, stattdessen Verstecken zu spielen. Wilhelm machte sich einen Spaß daraus, sich in Winifreds Sarg zu verstecken, in dem sie damals nach der Grippe beerdigt worden war. Über das Spiel vergaßen sie vollkommen die Zeit bis Wilhelms Mutter aus dem vorderen Teil der Gruft rief: „Kinder, die Geisterstunde ist zu Ende, Zeit für den Sa-harg!“ Da erst merkte Winifred, wie müde sie war. Wilhelm hatte sich netterweise bereit erklärt, sich auch bereits zum Ende der Geisterstunde schlafen zu legen, dafür hatte er auch schon etwas früher aufstehen dürfen, damit er um eins auch schon müde wäre. Colgata und Edelbert hatten zwei Särge nebeneinander geschoben, in denen die Kinder schlafen sollten. Winifred und Wilhelm kuschelten sich in die länglichen Kisten, Colgata wünschte ihnen einen guten Tag, gab Wilhelm einen Kuss auf die Stirn und schloss die Sargdeckel.
Da lag Winifred also in dem dunklen Sarg in der düsteren Gruft und war unglaublich müde. Meist fielen ihr zum Ende der Geisterstunde einfach die Augen zu und sie schlief tief und fest bis zur nächsten Mitternacht. Doch heute, heute wollten ihre Augen trotz der Müdigkeit einfach nicht zu bleiben. Sie starrte in die Dunkelheit – nur durch eine kleine Ritze im hölzernen Sargdeckel drang ein wenig flackerndes Kerzenlicht. Sie nahm die modrige und stickige Luft wahr und lauschte in die Stille hinein. Hätte sie noch ein schlagendes Herz gehabt, so hätte sie es wohl pochen hören. Winifred schloss die Augen und zählte Fledermäuse. Doch auch das half nichts. Sie drehte sich von einer Seite zur anderen, doch sie konnte und konnte nicht einschlafen. Mit einem Ruck stieß sie schließlich den Sargdeckel auf. „Ich kann nicht schlafen!“, beschwerte sie sich bei Colgata, die gerade eifrig damit beschäftig war, die Spinnweben neu zu arrangieren. Auch Edelbert sah von seinem Buch auf. „Hm“, murmelte der Vampirvater. „Hast du etwa Heimweh, kleines Fräulein?“ „Ich weiß nicht“, sagte Winifred. „Es ist, es ist hier – hm, es ist schön in der Gruft aber auch so – so … ich weiß auch nicht. Doch ja, es ist so wenig gruselig!“ „So wenig gruselig?“, fragte Colgata entsetzt. Aber ich habe doch gerade die Spinnweben neu arrangiert und erst gestern ein paar Totenschädel aufgestellt!“ „Ja, aber in der Burg, da knarzt es die ganze Zeit, Brunhilda hört man mit den Knochen klappern, der Wind pfeift durch das Dach, aus der Ferne hört man immer ein Käuzchen rufen und wenn ich in meinen Schrank gehe, dann spukt mein Vater mich immer noch in den Schlaf!“ „Oh, so ist das“, sagte Edelbert verständnisvoll. „Ja, vielleicht können wir dich ja ein bisschen in den Schlaf spuken.“ „Oh, das wäre toll!“ Inzwischen schaute auch Wilhelm wieder aus seiner Totenkiste. „Also gut“, sagte Edelbert und kletterte aus seinem Sarg. Dann drehte er sich zur Wand und hielt sich den Umhang vor das Gesicht. Anschließend wirbelte er mit einem Schwung herum, riss den Umhang vor seinem Gesicht weg, bleckte seine Vampirzähne und zischelte „Dein letzzztessss Stündlein hat geschlaaaagen!“ Wilhelm klatschte. Winifred saß ungerührt in ihrem Sarg. „Nein, das war nicht wirklich gruselig. Mein Vater rasselt immer mit einer rostigen Kette und macht ganz schaurige Geräusche.“ „Na gut, dann versuche ich etwas anderes“, sagte Edelbert und drehte sich erneut zur Wand. Als er sich diesmal schwungvoll umdrehte, verwandelte er sich dabei in eine überlebensgroße Fledermaus – ein schauriges Geschöpf mit blutunterlaufenen Augen, großen spitzen Zähnen und eingerissenen Ohren. Doch Winifred zeigte noch immer keine Reaktion. „Nein, das ist auch nicht wirklich gruselig. Mein Vater macht sich manchmal vollkommen unsichtbar und dann taucht er mit einem markerschütternden Schrei ganz plötzlich neben mir wieder auf.“ „So langsam bin ich mit meinem Latein am Ende. Colgata, hast du nicht eine Idee?“ Colgata nahm eine der Kerzen, die in der Gruft verteilt waren und hielt sie sich vor das Gesicht. Dann schnitt sie eine furchtbare Fratze und zischte durch ihre Zähne. „Nein, das ist auch nicht wirklich gruselig. Meine Mutter schneidet Fratzen, während sie ihren Kopf unter dem Arm trägt und rollt dabei fürchterlich mit den Augen.“ „Also einen Kopf, der unter dem Arm getragen wird, kann ich wohl schwerlich übertreffen“, sagte Colgata resigniert. „Vielleicht hilft ja eine wirklich gruselige Geschichte!“, mischte sich nun Wilhelm ein. „Ja, kennst du denn eine?“, fragte Colgata ihren Sohn. Und Wilhelm begann zu erzählen. Es war die Geschichte von einem kleinen Vampirjungen, der sich verlaufen hat und nicht mehr zu seinem Friedhof zurückfindet. Schließlich wird er von bösen Vampirjägern mit spitzen Holzpflöcken gejagt, gerät auf ein Knoblauchfeld und schafft es schließlich erst kurz vor Sonnenaufgang, gerade noch rechtzeitig wieder in seine Gruft zu gelangen. Jedem Vampirkind wäre es bei dieser Erzählung eiskalt den Rücken heruntergelaufen, doch Winifred saß weiterhin vollkommen ungerührt in ihrem Sarg. „Nein, das war nicht wirklich gruselig. Mein Bruder, der kennt ganz furchtbar schreckliche Geschichten über Geisterjäger, die kleine Gespenster aus ihren Schränken und Truhen locken und dann ihr Ektoplasma auflösen! So kann ich jedenfalls immer noch nicht schlafen“, Winifred sah die hilflos wirkende Vampirfamilie traurig an. „Ja, wenn das so ist, dann bringen wir dich am besten zurück in die Burg. Die Geisterstunde ist ja nun schon lange vorüber und ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass du in der nächsten Nacht zu müde zum Spuken bist. Ich bin sicher, in deinem Schrank wirst du hervorragend schlafen können“, sagte Colgata schließlich. Und ja, Winifred sehnte sich plötzlich ganz furchtbar nach ihrem Schrank, nach all dem Knacken und Kruscheln, das in der Burg des Nachts zu hören war, nach dem fehlenden Kerzenlicht, der absoluten Dunkelheit in den schmalen Gängen des alten Gemäuers, den Ratten und Mäusen und sogar nach den Spukereien ihres großen Bruders. Sie kletterte also aus dem Sarg, zog sich Wollmütze und Schal sorgfältig wieder an, damit ihre Mutter nicht merkte, dass sie beides zum Spielen in der Gruft abgelegt hatte und folgte Wilhelm und seinem Vater nach draußen.
Inzwischen hatten sich die Wolken fast völlig verzogen und ein sternklarer Himmel strahlte über ihnen. Nur der tiefliegende große Vollmond war noch von einer Wolke bedeckt. Schweigend schwebte Winifred zwischen Edelbert und Wilhelm, die sich in Fledermäuse verwandelt hatten. Nun ja, zumindest Edelbert war vollständig in eine recht große Fledermaus verwandelt. Auf Winifreds anderer Seite flatterte eine kleine Fledermaus mit einem rot-schwarzen Umhang und erstaunlich menschlich aussehenden blassrosa Füßchen. Winifred freute sich einerseits, endlich wieder in die Burg zu kommen, doch andererseits war sie enttäuscht von sich selbst. Nach dieser Nacht würde ihre Mutter sie sicher nicht so bald wieder zu den Sanguinpotums lassen und Lorenz würde sie wegen ihres Heimwehs sicher aufziehen. So in Gedanken versunken bemerkte Winifred gar nicht, dass sie inzwischen schon am dicken grauen Außengemäuer der Burg angelangt waren. Winifred sah auf und blickte das vertraut düstere und leicht verfallene Mauerwerk an. Sie seufzte. In diesem Moment geschah es nun, dass ein leichter Wind die Wolke, die den Mond bisher verhangen hatte, langsam davontrug. Der große tiefstehende Vollmond ließ nun den Nachthimmel langsam heller werden. Doch was war das? Winifred hielt plötzlich inne und starrte auf die Burg. Vor ihr bildete sich ein riesenhaftes Wesen aus. Bestimmt drei Meter groß, schwarz und mit einem enormem Schädel und Flügeln die sich hoben und senkten und zerfetzter Kleidung, die im Wind flatterte. Etwas so schreckliches hatte Winifred noch nie gesehen! Da verdunkelte der Nachthimmel sich wieder, denn der Wind trieb nun eine neue Wolke vor den Mond. Und so plötzlich, wie es aufgetaucht war, verschwand das monsterhafte Wesen. „Wo ist es, wo ist es hin?!“, rief Winifred aufgeregt und zitternd vor Angst. „Was meinst du, Kind“, fragte Edelbert. „Was ist denn nur los?“ „Das riesige Monster! Habt ihr es denn nicht gesehen? Dort bei der Burg? Es hatte einen riesigen Schädel und Flügel und war mindestens drei Meter groß mit flatternder, zerfetzter Kleidung! Oh, vielleicht ist es nun hinter uns geschwebt und gleich wird es mein Ektoplasma aufsaugen und euch so lange festhalten, bis der Tag anbricht und die Sonne euch in Asche verwandelt!“ „Aber Winifred, Kind, du bist ja ganz aufgelöst! Hier ist weit und breit kein riesenhaftes, Gespenster und Vampire vernichtendes Monster, weder bei der Burg, noch hinter uns.“ „Aber ich habe es doch ganz genau gesehen!“, beharrte Winifred. Da musste Wilhelm lachen. „Ich weiß, was sie meint. Sie hat den Schatten gesehen!“ „Den Schatten?“ „Unseren Schatten. Ich habe ihn auch gesehen als die Wolken den Mond freigegeben haben. Und er sah wirklich unheimlich aus. Das riesenhafte Monster warst du selbst Winifred. Der große Schädel, das war dein Kopf mit der dicken Wollmütze. Die Flügel, das waren Vater und ich, die neben dir her flatterten. Und die zerfetzte Kleidung, das waren die Enden deines Schals, die im Wind wehten. Winifred, du hast dich vor dir selbst erschrocken!“ „Du hast dich also so richtig, gegruselt, ja, Winifred?“, fragte Edelbert. „Ja, ich glaube sogar, ich habe mich noch nie in meinem Tode so sehr gegruselt“, erwiderte Winifred erfreut. „Ich glaube, ich kann jetzt ganz wunderbar einschlafen!“ Winifred hatte so lange im Dunkel der Burg gehaust, dass sie schon beinahe ganz vergessen hatte, was ein Schatten ist und welche Streiche diese düsteren Geschöpfe den Sinnen spielen können.
Die Nacht nahm damit für das kleine Gespenstermädchen doch noch ein gutes Ende. Sie schwebte mit Edelbert und Wilhelm zurück zur Gruft, wo Colgata sie mit einem freudigen „Kind, du zitterst ja wie Espenlaub!“ begrüßte. Winifred und Wilhelm krochen wieder in ihre Särge, Colgata und Edelbert schlossen die schweren Holzdeckel und mit dem noch immer anhaltenden Gefühl wohligen Grusels schlief Winifred ein.
Zur nächsten Geisterstunde holte Ritter Bartholomeus seine Tochter zurück auf die Burg und weil das Gespensterkind so fröhlich und begeistert von seinem kleinen Abenteuer erzählte, beschloss Mutter Margeaux, ihre Kinder nun öfter während der Geisterstunde draußen herumspuken zu lassen. Und Winifred perfektionierte das Schattenspiel zu ihrem neuen Lieblingsspuk.
Sollte es euch also einmal des Nachts in die Nähe von Burg Eisenfels verschlagen, so erschreckt euch nur recht ordentlich, wenn neben euch ein riesenhaftes Schattenmonster auftaucht. Damit macht ihr einem kleinen Geistermädchen eine sehr große Freude.
© Michaela Gross